Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
aber gewiss nicht einfach eine Chiffre für ein bedrohliches, übermächtiges Es in einem Freudschen oder Jungschen Sinn und seine mögliche destruktive Wirkung: Lovecrafts Schöpfung ist primär als kosmologisches, nicht als psychologisches Symbol zu interpretieren.
Die Zahl der erklärungswürdigen Anspielungen in ›The Call of Cthulhu‹ ist Legion; ich kann nur Beispiele auswählen. Eine einzige Gestalt aus der Untergrundreligion Cthulhus wird etwas näher profiliert, der »alte Castro«. Früher dachte man (auch ich habe diese Ansicht seinerzeit vertreten), Lovecraft habe hier seinem jüdisch-polnischen Korrespondenten Gustav Adolf Danzinger (1859–1959), der es im Zuge der amerikanischen Feindschaft gegen Deutschland vorzog, sich Adolphe de Castro zu nennen, ein witziges und skurriles Porträt geschaffen. Aber diese These ist mittlerweile widerlegt, da Lovecraft de Castro erst nach Abschluss der Erzählung kennenlernte. Der alte Castro, »der behauptete, er sei in fremde, ferne Häfen gesegelt und habe in den Gebirgen Chinas mit den todlosen Führern des Kults gesprochen«, ist auch ohne erkennbares Vorbild eine plausible Gestalt, in der Lovecraft nicht zuletzt ein Stück zeitgenössischen Okkultismus karikiert. Man wird sich daran erinnern, dass mehrere bedeutende okkulte Vereinigungen der Jahrhundertwende behaupteten, mit geheimnisvollen unsichtbaren Führern in Verbindung zu stehen bzw. von diesen gegründet worden zu sein. Vor allem ist hier an die Theosophen zu denken, auf die vielfach in ›The Call of Cthulhu‹ angespielt wird (schon in den berühmten Eingangssätzen). Aber während die Evokation unvordenklicher Vergangenheiten und gewaltiger Zeiträume in der Theosophie Helena Blavatskys (1831–1891) einen optimistischen Grundton aufweist, will ›The Call of Cthulhu‹ diesen gerade ad absurdum führen. Das wichtigste theosophische Buch, welches Lovecraft aus eigener Lektüre kannte und in ›The Call of Cthulhu‹ ja auch explizit nennt, ist W. Scott-Elliots The Story of Atlantis & The Lost Lemuria (1896 und 1904, 1925 in einem Band zusammengefasst und von Lovecraft so benutzt), ein theosophisches Konglomerat über angebliche dem Menschen auf der Erde vorangegangene intelligente Lebensformen und ihre evolutionäre Entwicklung. ›The Call of Cthulhu‹ ist eine antitheosophische Vision, welche deren Ideen noch einmal steigert, dabei aber auch in ihr Gegenteil verkehrt. Man beachte vor allem, dass es nicht um ein Gut-versus-Böse-Szenario geht. Narrativ nicht völlig befriedigend (warum geht R’lyeh noch einmal unter?), hat die Novelle doch die Fantasie unzähliger Leser beflügelt. Erschienen ist sie zuerst in Weird Tales, Februar 1928.
Auch an regionalen Anspielungen mangelt es nicht. So wohnt der hellsichtige Künstler Henry Anthony Wilcox (der Erschaffer einer Statue Cthulhus im Traum) im Fleur-de-Lys-Building (in der Nähe der Rhode Island School of Design). Dieses farbenprächtige Gebäude im bretonischen Stil (7 Thomas Street in Providence), das 1885 von Sydney R. Burleigh als Studio erbaut worden war, muss Lovecraft auf seinen Spaziergängen stets aufs Neue interessiert haben (obwohl er die Architektur der viktorianischen Epoche im Allgemeinen ablehnte), zumal es eigentümlich rätselhafte Froschfiguren als Verzierung trägt. Direkt gegenüber befindet sich die First Baptist Church von 1775 mit ihrem eleganten weißen Kirchturm, den Lovecraft für den schönsten in Neuengland hielt und auf deren Orgel er 1923 ›Yes, We Have No Bananas‹ (einen Schlager) zu spielen versuchte … Das schiere Maß autobiografischer topischer Anspielungen geht weit über das hinaus, was bei den meisten Schriftstellern in der einen oder anderen Weise dezent angedeutet wird. Tatsächlich ist Lovecrafts neuenglische Topografie nicht weniger ein augenzwinkerndes Insider-Spiel mit dem Leser als seine artifizielle Mythologie.
Last not least ein Wort zur Aussprache des Wortes Cthulhu. In einem Brief vom 23. Juli 1934 an Duane W. Rimel schreibt Lovecraft auf dessen Frage: »Das Wort soll den mühsamen menschlichen Versuch ausdrücken, die Phonetik eines absolut nicht-menschlichen Wortes zu artikulieren. […] Die Silben sind nicht für unsere physiologischen Voraussetzungen geschaffen, daher können sie auch nicht fehlerfrei von einer menschlichen Kehle ausgesprochen werden. Der Klang […] kann etwa durch Khlûl’-hloo wiedergegeben werden, wobei die erste Silbe guttural und sehr schwer klingt. Das U ist wie in
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