Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
Familie, der seit Kurzem an der Rhode Island School Of Design Bildhauerei studierte und im Fleur-de-Lys-Gebäude in der Nähe dieser Einrichtung allein lebte. Wilcox war ein frühreifer Jüngling von bekanntem Genie, aber großer Extravaganz, und er hatte von Kindheit an durch die merkwürdigen Geschichten und sonderbaren Träume, die er zu erzählen pflegte, Aufmerksamkeit erregt. Er bezeichnete sich selbst als ›psychisch überempfindlich‹, doch die bodenständigen Menschen der alten Handelsstadt taten ihn lediglich als wunderlich ab. Er hatte sich nie viel mit seinesgleichen umgeben, sich nach und nach aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen und war nun einzig einem kleinen Kreis von Ästheten aus anderen Städten bekannt. Selbst der auf seine konservativen Werte bedachte Künstlerclub von Providence hatte ihn als völlig hoffnungslos abgestempelt.
Angelegentlich seines Besuches, so berichtet das Manuskript des Professors, habe der Bildhauer plötzlich um die Hilfe der archäologischen Kenntnisse des Gastgebers gebeten, um die Hieroglyphen auf dem Flachrelief zu entziffern. Er sprach auf träumerische, geschraubte Weise, die ihn als Poseur auswies und Missfallen erregte; und mein Onkel antwortete ihm ein wenig streng, denn die verdächtige Frische der Relieftafel wies auf eine Verwandtschaft zu allem Möglichen hin, nur nicht zur Archäologie.
Die Erwiderung des jungen Wilcox, die meinen Onkel derart beeindruckte, dass er sich an den Wortlaut erinnerte und diesen festhielt, war von einer überaus dichterischen Art, die wohl seine ganze Konversation auszeichnete und die ich nun als höchst charakteristisch für ihn erkenne. Er sagte: »Es ist neu, in der Tat, denn ich schuf es letzte Nacht in einem Traum, der von sonderbaren Städten handelte – und Träume sind älter als das brütende Tyros oder die nachdenkliche Sphinx oder das von Gärten umrankte Babel.«
Dann begann er mit jener weitschweifigen Erzählung, die auf einer Traumerinnerung aufbaute und fieberhaftes Interesse seitens meines Onkels erregte. In der Nacht zuvor hatte es ein leichtes Erdbeben gegeben, das bedeutendste, das man seit Jahren in Neuengland erlebt hatte, und das hatte Wilcox’ Fantasie stark erregt. Nach dem Zubettgehen überkam ihn ein noch nie geträumter Traum von zyklopisch-großen Städten aus titanischen Blöcken und vom Himmel gefallenen Monolithen, die allesamt vor grünem Schleim troffen und finster waren von verborgenen Schrecken. Wände und Säulen seien mit Hieroglyphen bedeckt gewesen, und von einer unbestimmten Stelle aus der Tiefe sei eine Stimme gedrungen, die keine Stimme gewesen sei, eine wirre Empfindung, die einzig die Einbildung in einen Klang übertragen konnte, die er jedoch mit einem fast unaussprechlichen Wirrwarr von Buchstaben wiederzugeben versuchte: »Cthulhu fhtagn.«
Dieses Gestammel wirkte wie ein Schlüssel zum Interesse des Professors Angell, der immer erregter und verstörter wurde. Er fragte den Bildhauer mit wissenschaftlicher Genauigkeit aus und untersuchte mit geradezu panischer Gründlichkeit das Flachrelief, an dem der Jüngling beim Erwachen gearbeitet hatte – verkühlt und nur mit einem Nachthemd bekleidet, nachdem die Realität sich verwirrend über ihn geschlichen hatte. Mein Onkel schob es auf sein Alter, wie Wilcox mir nachher sagte, dass er nicht sofort die Hieroglyphen und die bildliche Darstellung erkannte. Viele seiner Fragen schienen dem Besucher völlig fehl am Platze zu sein, insbesonders jene, welche die Figur mit sonderbaren Kulten oder Gesellschaften in Verbindung zu bringen suchten. Wilcox verstand auch nicht die wiederholten Versprechen der Verschwiegenheit, die mein Onkel anbot, wenn er im Gegenzug eine Mitgliedschaft in einer weitverbreiteten mystischen oder heidnischen Glaubensgemeinschaft erhielte.
Als Professor Angell zur Überzeugung gelangte, dass der Bildhauer wirklich keinerlei Wissen über einen Kult oder eine Geheimlehre besaß, bedrängte er seinen Besucher mit der Forderung, ihm künftig über seine Träume Bericht zu erstatten. Dies trug bald regelmäßige Frucht, denn nach dem ersten Gespräch verzeichnet das Manuskript tägliche Besuche des jungen Mannes, während derer er verwirrende Bruchstücke nächtlicher Fantasien wiedergab, die stets schreckliche zyklopische Visionen dunkler und triefender Steine zum Inhalt hatten, mit einer unterirdischen Stimme oder Wesenheit, deren Rufe monoton und rätselhaft auf die Sinne wirkten und die man wohl als
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