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Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)

Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)

Titel: Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. P. Lovecraft
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beeinflusst ist. Umgekehrt stammt die Szene mit der sich öffnenden gewaltigen Tür in R’lyeh geradewegs aus Merritts Novelle ›The Moon-Pool‹ (1918; von Merritt später zu einem Roman ausgebaut), die auf der Südseeinsel Ponape mit ihren rätselhaften vorzeitlichen Steinbauten spielt.
    »Polypenhaft« heißt ja: lauernd, nicht jagend und kämpfend, sondern wartend und einfangend, mit einer unmenschlichen Kraft des Festhaltens versehen. Man darf natürlich nicht an die kleinen und harmlosen Polypen des Mittelmeeres denken, sondern an den unheimlichen und gigantischen Kraken der nordischen Seemannssage. Die Erzählungen William Hope Hodgsons (1877–1918), in denen krakenhafte Ungeheuer eine große Rolle spielen, hatte Lovecraft freilich erst 1934 für sich entdeckt; sie können daher nicht als Quellen gelten. Es ist auch gar nicht erforderlich, nach einer »Quelle« für Cthulhu zu suchen: Zu vollkommen entspricht er spezifischen Ideen und Bildern des Lovecraftschen Universums des Schreckens. Cthulhu ist aber weit mehr als ein riesiger außerirdischer Krake; dieser ist sozusagen nur seine ikonografische Vergegenwärtigung, während Cthulhu selbst so fremdartig bleibt wie das Schicksal, das er dermaleinst der Erde bereiten wird.
    Während in ›The Shadow over Innsmouth‹ (1931) die Bedrohung aus dem Meer etwas Leises, Schleichendes hat und ihre Opfer nicht schlagartig vernichtet, sondern dekadent macht, ist Cthulhu dezidiert eine apokalyptische Größe. Sein Erwachen signalisiert den Zusammenbruch aller menschlichen Kultur. Die orgiastischen Kulte, die Cthulhu verehren, hoffen zwar auf eine Fortsetzung und Steigerung ihrer Feste: »Dann würden ihnen die Großen Alten neue Wege zu brüllen, zu töten, zu schwelgen und zu genießen zeigen, und die Erde würde in Vernichtung, Ekstase und Freiheit flammen«. Die orgiastische Anarchie der Anhänger des Cthulhu-Kultes ist aber doch auch nur eine menschliche Interpretation der völligen Umwertung aller Werte, die das Wiedererwachen Cthulhus mit sich bringt. Mit einer genialen Metaphorik des Amorphen gelingt es Lovecraft, das Kommen Cthulhus als den Siegeszug einer völligen Auflösung des dem Menschen verstehbaren Universums anzudeuten (auch seine primitiven Anhänger »verstehen« Cthulhu nicht, sondern machen ihn sich nach ihrer Manier zurecht!).
    Die »falsche Geometrie«, die auf der Insel R’lyeh herrscht, erinnert auf den ersten Blick an die Evokation des Wahns durch den konsequenten Verzicht auf rechte Winkel und »normale« Perspektiven in dem Robert-Wiene-Film Das Cabinet des Dr. Caligari (1919). Aber Lovecraft will nicht so sehr eine schizoide, wahnhafte Sehweise evozieren, sondern unser alltägliches Bild von Raum und Zeit und ihren Gesetzen hinterfragen. Weder seine Anhänger noch der Erzähler können letztlich sagen, was Cthulhu ist.
    Wie wenige andere Geschichten Lovecrafts ist ›The Call of Cthulhu‹ von der numinosen, schrecklichen Präsenz eines Numens, eben Cthulhus, beherrscht. Hier steht tatsächlich ein Gott im Mittelpunkt, wenn man Cthulhu so verstehen will. Allerdings nicht ein Gott einer tröstlichen oder sonst wie humanen Religion, sondern einer unmenschlichen Andersartigkeit, die unsere Zivilisation nur hinwegfegen kann. Lovecraft gelingt es, in der Gestalt Cthulhus eine mythische Chiffre zu schaffen, die gerade die Infragestellung all dessen bedeutet, was dem Menschen lieb und wert zu sein pflegt. Dabei ist Cthulhu nicht böse: Er ist ganz und gar kein Dämon; wenn er von primitiven Kulten so verstanden (und verehrt) wird, liegt das an deren begrenzten Verständnismöglichkeiten. Lovecraft versucht hier bereits anzudeuten, was ihm dann in ›The Colour Out of Space‹ (abgeschlossen März 1927) unüberbietbar gelungen ist: die Manifestation des Numens zum Symbol für die angesichts der Fremdartigkeit des Kosmos zerbrechende Rationalität zu machen.
    Obwohl Cthulhu im Meer wohnt, ist er doch kein »Meeresgott« wie Poseidon, Neptun oder Aegir. Nirgends beherrscht er das Meer wie ein Elementarnumen; viel wichtiger ist seine Gewalt über die Träume, durch die er Menschen als seine Diener anwirbt – und über das Vehikel des Unbewussten nach ihnen greift. Doch ist Cthulhus Aufenthalt in den Tiefen des Meeres natürlich nicht beliebig: Das Meer ist der Bereich der Erde, der am ehesten zum Träger des Unbekannten werden kann, und das in fast allen symbolischen Bezügen am ehesten in Affinität zum Unbewussten des Menschen tritt. Cthulhu ist

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