Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
ein Kästchen darunter, das ich äußerst mysteriös fand und das ich nur mit größtem Widerwillen anderen gezeigt hätte. Es war verschlossen, und ich konnte den Schlüssel nicht finden, bis mir der Gedanke kam, den persönlichen Schlüsselbund zu untersuchen, den der Professor in der Tasche getragen hatte. So gelang es mir tatsächlich, die Schatulle zu öffnen, doch anschließend schien ich lediglich einer größeren und besser versiegelten Barriere gegenüberzustehen. Denn was konnten das sonderbare tönerne Flachrelief und die zusammenhangslosen Skizzen, wirren Notizen und Ausschnitte nur bedeuten, die ich fand? War mein Onkel in seinen letzten Lebensjahren einem dummen Schwindel aufgesessen?
Ich entschloss mich, den exzentrischen Bildhauer ausfindig zu machen, der offensichtlich für diese Störung des Geisteszustandes eines alten Mannes verantwortlich war.
Bei dem Flachrelief handelte es sich um ein grobes Rechteck von fast drei Zentimetern Tiefe und ungefähr fünfzehn mal achtzehn Zentimetern Durchmesser, und es war offensichtlich modernen Ursprungs. Die Darstellungen darauf waren jedoch von Stimmung und Sinngehalt her alles andere als modern, denn obschon die Extravaganzen des Kubismus und Futurismus vielfältig und heftig sind, so geben sie doch nur selten jene geheimnisvolle Gleichmäßigkeit wieder, die in vorgeschichtlichen Schriftzeichen verborgen liegt. Und die Mehrzahl dieser Figuren schien mit Gewissheit eine Art Schrift darzustellen, wenngleich meine Erinnerung mir trotz der vielen Unterlagen und der Sammlung meines Onkels in keiner Weise dabei half, diese besondere Art zu bestimmen oder auch nur ihre entfernteste Zugehörigkeit zu erahnen.
Über diesen augenscheinlichen Hieroglyphen befand sich eine Figur, die offenbar etwas darstellen sollte, obgleich ihre impressionistische Ausführung ein wirklich klares Erkennen unmöglich machte. Es schien eine Art Ungeheuer zu sein, oder ein Sinnbild für ein Ungeheuer, mit einer Gestalt, wie sie sich nur eine kranke Einbildungskraft einfallen lassen kann. Wenn ich sage, dass meine ausschweifende Fantasie zur gleichen Zeit Bilder eines Tintenfisches, eines Drachen und das Zerrbild eines Menschen hervorbrachte, so komme ich dem Geist des Dings nahe. Ein aufgeschwemmter Kopf mit Fangarmen krönte einen grotesken und schuppigen Leib, der Ansätze von Schwingen zeigte; doch es war der allgemeine Umriss des Ganzen, der es so bestürzend scheußlich erscheinen ließ. Hinter der Gestalt war die vage Andeutung eines architektonischen Hintergrundes von zyklopischem Ausmaß zu sehen.
Die Schreiben, die diese Merkwürdigkeit begleiteten, waren, mit Ausnahme eines Haufens Presseberichte, in Professor Angells jüngster Handschrift verfasst und erhoben keinen Anspruch auf literarischen Stil.
Das scheinbar wichtigste Dokument trug die Überschrift ›DER KULT DES CTHULHU‹ in sorgfältigen Buchstaben, um eine falsche Lesart des so fremdartigen Wortes zu vermeiden. Dieses Manuskript war in zwei Abschnitte geteilt, deren erster die Überschrift ›1925 – Traum und Traumbewältigung von H. A. Wilcox, 7 Thomas St., Providence, R. I.‹ und der zweite ›Bericht von Inspektor John R. Legrasse, 121 Bienville St., New Orleans, La., 1908 A A. S. Mtg. – Aufzeichnung darüber & Prof. Webbs Bericht‹ trug.
Bei den restlichen Manuskripten handelte es sich um kurze Notizen, manche davon Berichte über sonderbare Träume verschiedener Personen, andere Zitate aus theosophischen Büchern und Zeitschriften (vor allem aus W. Scott-Elliots Atlantis und das verlorene Lemuria ), und der Rest von ihnen Anmerkungen über uralte Geheimgesellschaften und verborgene Kulte mit Hinweisen auf Abschnitte in mythologischen und anthropologischen Nachschlagewerken wie Frazers Der Goldene Zweig und Miss Murrays Der Hexenkult in Westeuropa . Die Zeitungsausschnitte bezogen sich hauptsächlich auf Fälle von schlimmer Geisteskrankheit und Ausbrüche von Massenhysterie und Manie im Frühjahr 1925.
Die erste Hälfte des Hauptmanuskriptes erzählte eine sehr sonderbare Geschichte. Es scheint, dass am ersten März des Jahres 1925 ein dünner dunkler Mann von neurotischem und erregtem Aussehen Professor Angell einen Besuch abstattete und dabei das eigenartige tönerne Flachrelief mitbrachte, das zu diesem Zeitpunkt noch äußerst feucht und frisch war. Seine Visitenkarte wies ihn als Henry Anthony Wilcox aus, und mein Onkel erkannte in ihm den jüngsten Sohn einer vornehmen, ihm entfernt bekannten
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