Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
fortzusetzen, die ich begonnen hatte. Ich hielt es für ratsam, meinen Geist mit gesunden Dingen zu beschäftigen, denn es war nicht gut, über die Abnormitäten dieser alten vom Pesthauch überschatteten Stadt nachzusinnen, während ich mich noch innerhalb ihrer Grenzen aufhielt. Das wahnsinnige Seemannsgarn, das ich von dem alten Trunkenbold gehört hatte, versprach keine sehr angenehmen Träume, und ich fühlte, dass ich das Bild seiner wilden, wässrigen Augen von meiner Fantasie möglichst fernhalten musste.
Auch durfte ich nicht ständig daran denken, was der Fabrikinspektor dem Fahrkartenverkäufer in Newburyport über das Gilman House und die Stimmen seiner nächtlichen Bewohner erzählt hatte – genauso wenig wie an das Gesicht unter der Tiara im schwarzen Kellereingang der Kirche; das Antlitz, dessen Schrecknis mein Bewusstsein nicht zu erklären vermochte. Es wäre vielleicht einfacher gewesen, meine Gedanken von verstörenden Dingen freizuhalten, wäre das Zimmer nicht so grauenhaft modrig gewesen. So jedoch vermischte sich der tödliche Moder auf scheußliche Weise mit dem allgemeinen Fischgeruch der Stadt und ließ mich unablässig an Tod und Verfall denken.
Was mich außerdem beunruhigte, war das Fehlen eines Riegels an der Tür meines Zimmers. Einst hatte es einen gegeben, wie man deutlich sehen konnte, doch er musste kürzlich entfernt worden sein. Zweifelsohne war er nicht mehr funktionstüchtig gewesen, wie so viele andere Dinge in diesem zerfallenden Gemäuer. In meiner Nervosität blickte ich mich um und entdeckte einen Riegel am Kleiderschrank, der dieselbe Größe wie jener hatte, der früher an der Tür befestigt gewesen war. Um meine Anspannung wenigstens etwas zu verringern, beschäftigte ich mich damit, diesen Gegenstand mithilfe eines handlichen Mehrzweckgeräts, das an meinem Schlüsselbund hing und einen Schraubenzieher beinhaltete, an die verwaiste Stelle zu übertragen. Der Riegel passte perfekt. Jetzt fühlte ich mich ein wenig erleichtert im Wissen, ihn vorm Zubettgehen fest verschließen zu können. Nicht dass ich eine wirkliche Notwendigkeit dazu befürchtet hätte, doch war mir in einer derartigen Umgebung jedes Attribut der Sicherheit willkommen. An den beiden Seitentüren gab es funktionstüchtige Riegel zu den Nebenzimmern und ich schob sie sogleich vor.
Ich entkleidete mich nicht, sondern entschied zu lesen, bis ich schläfrig wurde, und mich dann hinzulegen, einzig meines Mantels und meiner Schuhe entledigt. Ich nahm eine Taschenlampe aus meinem Koffer und steckte sie in die Hosentasche, sodass ich auf die Uhr sehen könnte, sollte ich später im Dunkeln erwachen. Es überkam mich jedoch keine Müdigkeit, und als ich mit dem Lesen innehielt, um meine Gedanken zu ordnen, bemerkte ich zu meiner Beunruhigung, dass ich die ganze Zeit unbewusst auf etwas horchte – etwas, das ich fürchtete, aber nicht zu benennen vermochte. Die Geschichte jenes Inspektors musste stärkeren Eindruck auf meine Vorstellungskraft gemacht haben, als ich vermutet hatte. Erneut versuchte ich zu lesen, konnte mich aber nicht konzentrieren.
Nach einer Weile schien ich in regelmäßigen Abständen auf der Treppe und den Gängen ein Knarren zu hören wie von Schritten, und ich fragte mich, ob die anderen Räume nun auch belegt seien. Ich hörte jedoch keine Stimmen, und es fiel mir auf, dass das Knarren etwas Subtiles, Verstohlenes hatte. Das gefiel mir nicht, und ich zog in Erwägung, besser gar nicht erst einzuschlafen. In dieser Stadt gab es mancherlei sonderbare Leute, und ohne Zweifel waren mehrere Menschen hier verschwunden. War dies eines jener Gasthäuser, wo Reisende ihres Geldes wegen ermordet wurden? Gewiss sah ich nicht sonderlich wohlhabend aus. Oder waren die Stadtbewohner wirklich so schlecht auf neugierige Besucher zu sprechen? Hatte meine neugierige Besichtigungstour zu viel Aufmerksamkeit erregt? Mir kam der Gedanke, dass mein nervlicher Zustand wohl nicht gerade der beste sei, wenn mich schon ein paar zufällige knarrende Geräusche zu derartigen Grübeleien verleiteten – dennoch reute es mich, dass ich unbewaffnet war.
Endlich verspürte ich Erschöpfung, die aber nichts von Schläfrigkeit an sich hatte, verriegelte die neu ausgestattete Tür zum Gang, schaltete das Licht aus und warf mich auf das harte, unebenmäßige Bett – mitsamt Mantel, Kragen und Schuhen. In der Finsternis schien sich jedes schwache Geräusch der Nacht zu verstärken und eine Welle unerträglicher
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