Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
erzählt), was die Tiefen Wesen noch tun könnten (das wird nur angedeutet), und schließlich das faszinierende Problem der Identitätssuche des namenloses Erzählers. Man beachte auch, dass die Menschen und die Tiefen Wesen verwandt sind: Dekadenz erweist sich als Atavismus, ein sich wiederholender Gedanke bei Lovecraft. Dennoch ist die »Philosophie« oder sagen wir besser ästhetische Kulturkritik nicht aufdringlich.
Zuerst ist ›The Shadow Over Innsmouth‹ eine spannende Novelle mit Handlung, Atmosphäre und echten Überraschungsmomenten. Die allmähliche Kulmination der Spannung ist meisterhaft inszeniert: Tatsächlich dürfte es die literarisch ausgereifteste Erzählung Lovecrafts sein. Ihre Zwei- bzw. Mehrgipfligkeit erhebt sie über den Rang einer Kurzgeschichte. Sprachlich ist ›The Shadow Over Innsmouth‹ insofern von großem Interesse, als lange Passagen der Novelle in Dialekt geschrieben sind: die Rede Zadok Allens an den Pieren des Hafens von Innsmouth. Lovecraft hat hier einen alten Yankee-Dialekt wiederzugeben versucht; in einer Übersetzung gehen diese Subtilitäten teilweise verloren. Man beachte, mit wieviel Verständnis, ja Sympathie Lovecraft den alten Säufer zu schildern vermag. Solche langen Passagen in Dialekt waren in der Literatur dieser Zeit üblicher, als sie es heute sind (im englischen Original kann sie auch der im Englischen weniger sichere relativ gut verstehen, wenn er sie laut liest). Ein reales Vorbild für Zadok Allen, dessen Erinnerung die Generationen überspannt, war Lovecrafts Freund Jonathan E. Hoag (1831–1927), dessen Lebensdaten präzise mit denen von Allen übereinstimmen (das kann kein Zufall sein), und dessen Gedichte Lovecraft 1923 in einem schönen Sammelband herausgegeben hatte.
Ein interpretatorisches Problem wird u. a. durch den Schluss gestellt: Sollen wir den Helden bedauern oder beneiden? Unterliegt er in seinem Stimmungsumschwung gegenüber den »Deep Ones« einer gigantischen und tragischen Selbsttäuschung (so S. T. Joshi) oder findet tatsächlich eine Bewusstseinserweiterung und völlige Umwertung der Werte statt, sodass aus dem Grauenhaften Erhabenes und Faszinierendes wird (wie ich in einer Reihe von Aufsätzen zu zeigen versucht habe)? Das mag hier auf sich beruhen; die Ambivalenz dieser rätselhaften Schlusssätze ist sicher von Lovecraft beabsichtigt. Überhaupt hat ›The Shadow Over Innsmouth‹ viele Aspekte, die hier nur gestreift werden können.
Wie immer bei Lovecraft verdienen, wie schon angedeutet, die topografischen und regionalgeschichtlichen Anspielungen Aufmerksamkeit. »The Esoteric Order of Dagon« mit seinen menschlichen und nichtmenschlichen Mitgliedern ist eine Art Travestie auf die in Neuengland ungemein einflussreichen Freimaurer. Allein bis 1826 gab es in Newburyport die folgenden Logen: St. John’s Lodge (1766), St. Peter’s Lodge (1772), King Cyrus’ Royal Arch Chapter (1790), Encampment of Knights Templars (seit 1795), St. Mark’s Lodge (1803); ein Council of Select Masters ist seit 1822 bezeugt, wenig später ein Consistory (eine Art Dachverband der Freimaurer) – und das alles in einem Städtchen, welches 1820 insgesamt 6789 Einwohner (männlichen und weiblichen Geschlechtes) hatte. Das Gebäude (die ehemalige »Masonic Hall«, also die Versammlungsstätte der Freimaurer), welches Lovecraft ohne Frage architektonisch beeinflusst hat, als er den Tempel in Innsmouth beschreibt, ist aber die American Legion Hall in Gloucester (einer anderen nahegelegenen Stadt, die auch sonst einige Züge zu Innsmouth beigetragen hat). Mehrere Familienmitglieder Lovecrafts waren Maurer, aber diese Art von Freimaurerei ist eine harmlose humanistisch-aufklärerische Angelegenheit. Es existieren keinerlei Indizien dafür, dass Lovecraft je in näherem Kontakt mit magischen Geheimgesellschaften stand (von denen es in den 1920er und 1930er Jahren auch in den USA eine Reihe gab). »The Esoteric Order of Dagon« ist ein ausschließlich fiktionales Gebilde, eine böse Mysterienreligion mit gestaffelten Einweihungsgraden und geheimen Eiden. Viele Symbole sind aus der Bibel übernommen, aber mit anderen Inhalten unterlegt: Der Fischgott Dagon etwa, aus der Bibel wohlbekannt (der Name ist nur volksetymologisch verbunden mit hebräisch »dag« Fisch), wird zur Chiffre für Cthulhu. Natürlich sind die »Deep Ones«, Lovecrafts Froschfische, auch von diversen literarischen Vorbildern beeinflusst, angefangen von den Meermännern und Meerfrauen der
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