Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
Dörfer nach Stätten in Großbritannien heißen). Auch in Lovecrafts Sonettzyklus Fungi from Yuggoth (1929/30) taucht Innsmouth auf (in dem Gedicht ›The Port‹), mit Attributen, die schon ganz unserem Innsmouth entsprechen.
Lovecrafts Stadt existiert zwar nicht real, sie hat aber doch Vorbilder in der Wirklichkeit, wie Lovecraft in seinen Briefen auch mehrfach explizit schreibt, sodass hier keine Unsicherheiten möglich sind. Tatsächlich entspricht Innsmouth in vielen wesentlichen Zügen Newburyport, einem kleinen Hafenstädtchen wenige Kilometer nördlich von Boston (man kann es gut während eines Tagesausfluges von Boston aus besichtigen). Allerdings wird Newburyport in unserem Text auch erwähnt; ebenso wie Rowley und Ipswich, völlig reale Kleinstädte. Arkham liegt in der Fiktion nördlich von Innsmouth (der Bus hat das Meer zur Linken), aber Salem (üblicherweise das Vorbild von Arkham) befindet sich in Wahrheit südlich von Newburyport. Man kann die Busfahrt des Erzählers (identifiziert man Arkham mit Salem) mit dem Finger auf der Landkarte verfolgen, bis man an die Stelle kommt, wo die imaginierte Landschaft die reale überblendet. Devil’s Reef erinnert an die flache Dünenhalbinsel Plum Island, die heute ein Vogelparadies ist. Das Verhältnis zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist also wie zu erwarten ein komplexes, nicht einfach eine lineare Identität. In jedem Fall gelingt es Lovecraft durch dieses authentische Lokalkolorit ein Gefühl der »Nähe« zu erzeugen, die das Erscheinen des Unheimlichen in seiner Wirkung verstärkt. Lovecraft verwendet hier das Repertoire eines Regionalschriftstellers, aber in diese »Nähe« bricht das Fremde seiner monströsen Anderswelt.
Das reale Newburyport hatte Lovecraft mehrfach besucht, als er seine Novelle konzipierte (zuerst 1923). Einmal schreibt er über einen solchen Besuch (Brief an Clark Ashton Smith, vom 20. November 1931): »Die Altertümlichkeit und Verlassenheit machen die Stadt zu einer der in einem gespenstischen Sinn faszinierendsten Plätze, die ich kenne. Sie vermittelte mir die Idee zu einer neuen Geschichte …«
Dazu tritt eine weitere Vorgeschichte, die Lovecraft aus Büchern bekannt war. Von der Dekadenz der Bevölkerung in den kleinen, heruntergekommenen Hafenstädten nördlich von Boston erzählt schon 15 Jahre vor Lovecrafts Geburt Samuel Adams Drake (1833–1905) in einem der schönsten Bücher, die wohl je über Neuengland geschrieben wurden: ›Nooks and Corners of the New England Coast‹, New York 1875. Lovecraft besaß es auch in seiner eigenen Bibliothek, neben anderen Büchern dieses Autors; vermutlich hat es seine Sicht der neuenglischen Landschaft wesentlich geprägt. Drake berichtet von Gemeinwesen an der Küste, die so verarmt und auch von der übrigen Welt abgeschnitten waren, dass keine Geburts- und Heiratsregister mehr geführt wurden und es keinerlei städtische Organisation mehr gab. Manche dieser Fischerdörfer hatten nur noch einige Dutzend Einwohner, hatten aber alle ehemals bessere Tage gesehen. Drake denkt vor allem an Dörfer in Maine, das Lovecraft nicht näher aus eigener Anschauung kannte. Auch von Fällen von offenkundigem, nicht verheimlichtem Inzest weiß Drake zu berichten. Das ist genau die Welt, die Lovecraft für Innsmouth vor Augen hat. Der Verfall des ehemals blühenden Fischerei-Wesens – so wichtig für Lovecrafts Novelle – zieht sich wie ein roter Faden durch Drakes eingehende Beschreibung der neuenglischen Küste im Jahr 1875. Moderne Fangmethoden auf hoher See machten hier der schlichten Küstenfischerei den Garaus. Der Hexen- und Gespensterglauben der Bevölkerung wird eingehend geschildert; er ist noch im späten 19. Jahrhundert lebendig. Von unheimlichen Meeresbewohnern weiß er aber nichts zu vermelden; hier ist ganz Lovecrafts eigene Imagination am Werk. Was Drake und Lovecraft verbindet, ist ihre überwältigende Liebe zu der Landschaft und ihrer Kultur, deren langsamen Untergang beide beschreiben. »Als ich dort stand, fühlte ich, dass ich nicht umsonst gelebt habe«, schreibt Drake einmal über seine Wanderungen in Rhode Island.
›The Shadow Over Innsmouth‹ ist nicht nur in thematischer, sondern auch in literarischer Hinsicht bemerkenswert. Ähnlich wie in ›The Case of Charles Dexter Ward‹ begegnen wir dem erzählerischen Stilmittel des doppelten Schreckens. Hier sind es sogar drei »Ebenen des Schreckens«: was in Innsmouth geschah und geschieht (auf mehreren Zeitebenen
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