Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
verschifft.
Früher gab’s Gerede über ’ne komische, fremdländische Art von Schmuck, den die Matrosen und die Männer von der Raffinerie manchmal klammheimlich verkauften oder den man ein- oder zweimal an manchen der Marsh-Weiber sah. Die Leute hielten es für möglich, dass der alte Käpt’n Marsh ihn vielleicht in einem heidnischen Hafen eintauschte, vor allem weil er ja immer Unmengen von Glasperlen und Flitterkram bestellte, wie Seefahrer sie zum Tauschhandel mit Eingeborenen benutzten. Andere dachten, und glauben es noch immer, dass er ein altes Piratenversteck draußen auf dem Teufelsriff entdeckt hatte. Aber hier wird’s seltsam. Der alte Käpt’n ist nun schon seit sechzig Jahren tot und seit dem Bürgerkrieg ist kein größeres Schiff mehr von dort aus in See gestochen; aber trotzdem kaufen die Marshes noch immer ein paar von diesen Sachen zum Tauschen mit Eingeborenen – meistens Kinkerlitzchen aus Glas und Gummi, heißt es. Vielleicht haben die Leute von Innsmouth sie selbst ganz gerne – Gott weiß, dass sie mittlerweile auch nicht besser sind als die Kannibalen in der Südsee oder die Wilden in Guinea.
Diese Pest von 1846 muss die besten Familien der Stadt ausradiert haben. Jedenfalls sind sie jetzt ein zweifelhafter Haufen, und die Marshes und andere reiche Leute sind genauso schlimm wie der Rest. Wie ich Ihnen schon sagte, gibt es in der ganzen Stadt nicht mehr als vierhundert Menschen, trotz all der Straßen, die sie angeblich dort haben. Ich nehme an, sie sind das, was man unten in den Südstaaten den ›weißen Abschaum‹ nennt – gesetzlos und verschlagen und voller Geheimnisse. Sie fangen ’ne Menge Fisch und Hummer und exportieren sie mit Lastwagen. Merkwürdig, dass die Fische genau dorthin schwärmen.
Man kann diese Leute schlecht im Auge behalten und Schulbeamte und Volkszähler haben es dort verdammt schwer. Sie können was drauf wetten, dass schnüffelnde Fremde in Innsmouth nicht willkommen sind. Ich hab selbst von mehr als einem Geschäftsmann oder Regierungsbeauftragten gehört, der dort verschwunden ist, und es gibt Gerede über einen, der verrückt wurde und nun in Danvers sitzt. Die müssen sich ’nen grausigen Schreck für den Burschen ausgedacht haben. Deshalb würde ich an Ihrer Stelle nachts dort nicht bleiben. Ich war noch nie da und verspüre auch keinen Wunsch danach, aber ich schätze, dass eine Reise tagsüber Ihnen nicht schaden kann – auch wenn die Leute hier Ihnen davon abraten werden. Falls Sie nur Besichtigungen machen wollen und nach altem Zeugs suchen, könnte Innsmouth für Sie das Richtige sein.«
Und so verbrachte ich einen Teil jenes Abends in der öffentlichen Bibliothek von Newburyport und suchte nach Informationen über Innsmouth. Als ich versucht hatte, die Einheimischen in den Geschäften, dem Restaurant, den Tankstellen und der Feuerwache zu befragen, waren sie noch schwieriger zum Reden zu bringen, als der Fahrkartenverkäufer es vorhergesagt hatte, und mir wurde klar, dass ich nicht die nötige Zeit aufwenden konnte, ihre instinktive Verschwiegenheit zu überwinden. Sie legten einen obskuren Argwohn an den Tag, als sei mit jemandem, der ein zu großes Interesse an Innsmouth zeigte, etwas nicht in Ordnung. Bei dem CVJM, wo ich abstieg, riet der Heimleiter mir sogar davon ab, einen so düsteren, dekadenten Ort aufzusuchen. Die Menschen in der Bücherei waren ähnlicher Ansicht; in den Augen der Gebildeten war Innsmouth eindeutig nicht mehr als ein gesteigerter Fall städtischer Degeneration.
Die Bücher über die Geschichte von Essex County in den Regalen der Bücherei hatten nur wenig zu berichten außer der Tatsache, dass die Stadt 1643 gegründet wurde, bis zur Revolution berühmt für ihren Schiffsbau und im frühen 19. Jahrhundert eine sehr reiche Hafenstadt gewesen war, die sich danach zu einem kleineren Industriezentrum mit dem Manuxet als Energiequelle entwickelt hatte. Die Seuche und die Aufstände des Jahres 1846 wurden nur sehr knapp abgehandelt, als stellten sie eine Schande für den Landkreis dar.
Bezüge auf den Niedergang waren selten, obgleich die Bedeutsamkeit der jüngeren Entwicklungen unmissverständlich war. Seit dem Sezessionskrieg beschränkte das gesamte Industrieleben sich auf die Marsh Refining Company, und abgesehen von der stets ertragreichen Fischerei stellte die Vermarktung der Goldbarren den einzig verbliebenen größeren Geschäftszweig dar. Der Fischfang lohnte sich bald immer weniger, da die Preise der
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