Chronik eines angekuendigten Todes
hatte es nicht geregnet. Im Gegenteil, der Mond stand hoch am Himmel, und die Luft war durchsichtig, und in der Tiefe sah man die Leuchtspur der Irrlichter auf dem Friedhof. Auf der anderen Seite waren blau im Mondschein die Bananenplantagen zu erkennen, die traurigen Sümpfe und am Horizont der phosphoreszierende Streifen der Karibik. Santiago Nasar deutete auf ein blinkendes Licht im Meer und erzählte uns, es sei die umherirrende Seele eines Sklavenschiffs, das einst mit einer Ladung Neger aus dem Senegal vor der großen Flussmündung von Cartagena de Indias untergegangen war. Undenkbar, dass ihn das Gewissen plagte, allerdings wusste er da noch nicht, dass das kurze Eheleben der Ángela Vicario zwei Stunden zuvor sein Ende gefunden hatte. Bayardo San Román hatte sie zu Fuß in ihr Elternhaus zurückgebracht, damit der Motorenlärm sein Unglück nicht vorzeitig preisgab, und befand sich wieder allein bei gelöschten Lichtern im glücklichen Landhaus des Witwers de Xius.
Als wir den Hügel hinabstiegen, lud mein Bruder uns zum Bratfisch-Frühstück in die Markthallen ein, doch Santiago Nasar lehnte ab, weil er bis zur Ankunftdes Bischofs eine Stunde schlafen wollte. Er ging mit Cristo Bedoya am Flussufer entlang, an den ärmlichen Unterkünften des alten Hafens vorbei, in denen die Lichter anzugehen begannen, und bevor er um die Ecke bog, winkte er uns ein Lebewohl zu. Dort sahen wir ihn zum letzten Mal.
Cristo Bedoya, mit dem er sich später am Hafen treffen wollte, verabschiedete sich von ihm am hinteren Eingang des Hauses. Die Hunde bellten Santiago Nasar aus Gewohnheit an, als sie ihn eintreten hörten, doch er beruhigte sie im Halbdunkel mit dem Geklingel seines Schlüsselbunds. Victoria Guzmán wachte über der Kaffeekanne auf dem Herd, als er durch die Küche ins Haus ging.
»Weißer«, rief sie ihm zu, »der Kaffee ist gleich fertig.«
Santiago Nasar sagte ihr, er würde ihn später trinken, und bat sie, Divina Flor zu sagen, sie möge ihn um halb sechs wecken und frische Sachen, so wie er sie anhabe, mit heraufbringen. Einen Augenblick, nachdem er die Treppe hinaufgestiegen war, um sich schlafen zu legen, erhielt Victoria Guzmán durch die Milchbettlerin Clotilde Armentas Botschaft. Um halb sechs kam sie seiner Anweisung nach, ihn zu wecken, aber sie schickte nicht Divina Flor, sondern stieg mit dem Leinenanzug selber zum Schlafzimmer hinauf, denn sie nahm jede Gelegenheit wahr, ihre Tochter vor den Krallen des Bojaren zu bewahren.
María Alejandrina Cervantes hatte ihr Haus nicht verriegelt. Ich verabschiedete mich von meinem Bruder, schritt durch den Gang, in dem die Katzen der Mulattinnen aneinandergedrängt zwischen denTulpen schliefen, und öffnete die Schlafzimmertür, ohne anzuklopfen. Die Lichter waren gelöscht, doch sobald ich eintrat, spürte ich den lauen Frauengeruch und sah im Dunkeln ihre schlaflosen Leopardenaugen, und ich kam erst wieder zu mir, als die Glocken läuteten.
Auf dem Weg nach Hause ging mein Bruder in Clotilde Armentas Laden, um Zigaretten zu kaufen. Er hatte so viel getrunken, dass seine Erinnerungen an diese Begegnung stets wirr blieben, aber er vergaß nie den tödlichen Schluck, den Pedro Vicario ihm anbot. »Es war reines Feuer«, sagte er zu mir. Pablo Vicario, der schon halb eingeschlafen war, fuhr erschreckt hoch, als er ihn eintreten hörte, und zeigte ihm das Messer.
»Wir werden Santiago Nasar töten«, sagte er.
Mein Bruder konnte sich nicht daran erinnern. »Aber selbst wenn ich das gehört hätte, ich hätte es nicht geglaubt«, hat er mir mehrmals versichert. »Wer, zum Teufel, sollte auf den Gedanken kommen, dass die Zwillinge irgendjemand umbringen würden, und dazu noch mit Schweinemessern!« Gleich darauf fragten sie ihn, wo Santiago Nasar sei, denn sie hatten die beiden gegen zwei Uhr zusammen gesehen, aber auch an seine eigene Antwort konnte sich mein Bruder nicht erinnern. Clotilde Armenta und die Brüder Vicario hingegen hatte diese so überrascht, dass sie sie unabhängig voneinander zu Protokoll gaben. Demzufolge hatte mein Bruder gesagt: »Santiago Nasar ist tot.« Danach erteilte er ihnen den bischöflichen Segen, stolperte über die Türschwelle und taumelte auf die Straße. Mitten auf der Plaza begegnete er PaterAmador. Dieser ging im Messgewand zum Hafen, gefolgt von einem Ministranten, der das Messglöckchen läutete, sowie mehreren Helfern, die den Altar für die Feldmesse des Bischofs trugen. Als sie die Gruppe vorüberschreiten sahen,
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