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Chroniken der Jägerin 3

Chroniken der Jägerin 3

Titel: Chroniken der Jägerin 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Liu
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vergruben.
    Ich war noch zu erschöpft, um überrascht zu sein. Aber nicht so erschöpft, um nicht zu merken, dass irgendetwas Entscheidendes in meinem Gehirn fehlte. Irgendetwas verdammt Persönliches.
    Ich versuchte, mich an irgendetwas im Zusammenhang mit dem Mann zu erinnern – an irgendetwas, das weiter als zehn Minuten zurücklag. Aber es brachte mir nichts als ein wundes Herz, das sich so anfühlte, als wäre es in Stücke geschnitten worden, und ein Gefühl von Einsamkeit, so umfassend und furchtbar, dass es mir den Atem nahm.
    Blut strömte zwischen den Fingern des Mannes hervor, befleckte sein grünes Flanellhemd und tropfte auf den Boden. Ich hatte Angst, ihm in die Augen zu schauen, und diese Furcht bewirkte, dass ich mich ganz klein fühlte. Ich war doch noch nie feige gewesen.
    Feiglinge sterben. Feiglinge lassen andere sterben.
    Zee betrachtete das Blut und dann den Mann. Ihn und mich.
    »Gutes Herz«, schnarrte der Dämon so eindringlich, dass mir die Tränen in die Augen schossen und sie schließlich zum Überlaufen brachten, als er seine klauenbewehrte Hand auf meine Brust legte. »Verlier es nicht, das gute Herz.«
    Ich rieb mir die Augen. Ich spürte den Morgen unter der Haut, das Kitzeln der Sonne, die irgendwo hinter den Mauern und den Wolken aufging. »Geh schlafen. Antworten gibt es heute Nacht.«
    »Maxine«, flüsterte Zee besorgt, »fürchte, Antworten könnten töten.«

    Dek und Mal hörten auf zu summen. Rohw und Aaz betrachteten Jack. Ich versuchte, dasselbe zu tun, aber ich konnte nur bis zu seinen Schuhen schauen, bis zu den Beinen, dem Rand seiner schmalen Hand, den in Blut getauchten Fingerspitzen.
    »Umso dringender sollten wir herausfinden, was hier geschehen ist«, entgegnete ich und rüstete mich für den Sonnenaufgang.
    Es geschah schnell. Schneller als ein Augenblick, schneller als ein Herzschlag – in weniger als einem Moment, einem halben Moment vielleicht oder nochmals der Hälfte davon. Die Jungs verschwanden. Verblassten zu Rauch, der auf meiner Haut wieder sichtbar wurde.
    Ich starrte auf meine Arme und Hände. Seit der Ermordung meiner Mutter hatte meine Haut kein Sonnenlicht mehr gesehen. Und sie würde es auch niemals mehr sehen. Das fahle Fleisch war verschwunden, vollständig von Tätowierungen bedeckt, von verschlungenen Körpern, die aus Kohle und Quecksilber gestochen zu sein schienen und in deren Venen silberne Feuer glänzten. Schuppen und Klauen, Zähne und Zungen drückten jetzt auf meine Haut und bedeckten jeden Zentimeter von den Zehen bis zum Scheitel. Selbst den Skalp zwischen meinen Schenkeln. Nur mein Gesicht war unbedeckt, aus Eitelkeit, aber dem wurde bei Gefahr schnell abgeholfen. Was bereits häufiger vorgekommen war: durch Kugeln oder Busse, unter die man mich geworfen hatte.
    Sterblich bei Nacht, unsterblich am Tag. Von jetzt bis zum Sonnenuntergang konnte mir gar nichts etwas anhaben. Keine Atombombe, keine Fluten und auch kein Feuer, nicht einmal das schlimmste Monster dieser Welt oder irgendeiner anderen.
    Meine Blutlinie war geschaffen worden, um Monster zu bekämpfen. Um die Welt vor den allerschlimmsten Kreaturen zu
beschützen, vor Wesen, deren Existenz man sich nicht einmal im Traum vorstellen konnte. Früher gab es mehr von uns. Nur ich war übrig geblieben. Ich stand allein gegen eine Horde von Dämonen, die in einem Gefängnis schmorten, das die ganze Welt umgab. Ich kämpfte gegen Jacks eigenes Volk, gegen Avatare, fremde Wesen, die meine Blutlinie vor zehntausend Jahren geschaffen hatten, und die fast eine ebenso große Bedrohung darstellten wie die Dämonen, die hinter dem Schleier eingekerkert waren.
    Ich rieb mir die Hände; das Blut war fort, die Jungs hatten es absorbiert. Ihre schwarzen Nägel, scharf genug, um damit Stahl zu schneiden, schimmerten im Licht der Lampe wie Ölflecken. Sogar meine Fingerrüstung hatte ihr Aussehen verändert, wie ein Chamäleon. Eingeätzte Knoten und Schlingen, die an Rosen erinnerten, verzierten sie jetzt. Ich fühlte mich schwerer. Die Jungs waren massiv. Rote Augen starrten mir aus meinen eigenen Handflächen entgegen: Dek und Mal. Auf jeder Hand schlief einer von ihnen. Die Jungs rasteten nie zweimal am selben Ort. Genau wie ich.
    Doch halt, das stimmte nicht. Ich hatte ein Zuhause. Ich hatte doch Wurzeln geschlagen und lebte hier schon seit …
    Seit fast zwei Jahren , sagte ich mir. Zwei Jahre Leben im Warmen.
    Ich konnte diese Wärme spüren. Nicht als Hitze, sondern tiefer … in

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