Chroniken der Jägerin 3
durchnässt.
Als ich aufstehen wollte, ergriff er mein Handgelenk. »Ich brauche dich bei mir«, sagte er.
»Ich werde kämpfen«, sagte die Botin und dehnte ihre Hände.
Aus ihren Fingerspitzen wuchsen Klauen, ihre Haut leuchtete. »Kümmert ihr euch um den Schleier.«
Ich hörte sie kaum. Grant hatte zu singen begonnen.
Die Stimme strömte aus seiner Kehle, und zwar mit einer Kraft, als würden tausend Mönche singen, Zehntausende sogar, Abertausende von Stimmen klangen in seinem Gesang mit. Es war ein überwältigendes, übermenschliches Ur-Om, das ebenso das Summen eines brennenden Sterns wie auch das Rauschen des Blutes in den Venen hätte sein können. Oder der Klang des Funkens, der den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmacht.
Um uns herum prasselten Mahati auf den Boden. Zee und die Jungs pressten sich an unsere Seiten. Ich erkannte die Botin, sie hatte den Kopf zurückgeworfen und den Mund zu einem Schrei aufgerissen, den ich selbst nicht hören konnte, der aber bewirkte, dass ein Mahati-Krieger wie gelähmt davon war und sie angsterfüllt anstarrte. Und dann, mit derselben Furcht, drehte er sich um und griff seine eigenen Leute an. Ich hielt Ausschau nach Jack, konnte ihn aber nicht sehen. Die Narbe unter meinem Ohr regte sich. Noch mehr Körper stürzten aus dem Riss im Schleier.
Ich schloss die Augen, weil ich es nicht ertrug hinzuschauen. Ich musste darauf vertrauen, dass wir alle in Sicherheit sein würden. Mehr konnte ich nicht tun, als einfach nur aufrecht zu bleiben, während Grants Stimme in meine Knochen fuhr und an Stärke zunahm. Unter meinen Lidern verströmte sich goldenes Licht, Fäden von Licht. Ich stellte mir vor, wie das Licht in meiner Brust heller und heller brannte, selbst dann noch, als die Finsternis wuchs und sich in meinem ganzen Körper so lange ausbreitete, bis ich dachte, ich würde aus allen Nähten platzen und die Welt mit Schatten überfluten.
Die Finsternis nährte das Licht, und das Licht nährte die Finsternis. Das konnte ich sehen und spüren; es arbeitete in
mir, mit jedem Herzschlag und jedem Atemzug. Musik und Blut flossen in einer furchtbaren Harmonie zusammen.
Ich fühlte, wie ich mich veränderte. Das waren keine Kleinigkeiten. Meine Gelenke schmerzten, meine Muskeln dehnten sich, und die Welt schien unermesslich klein zu werden. Mein Fleisch wurde zu Feuer. Ich loderte vor Kraft. Eine mörderische, wilde Macht, die Tod und Leben angesichts des Abgrunds, der unter meinem strahlenden, goldenen Herzen gähnte, bedeutungslos wirken ließ.
Rasch öffnete ich die Augen – und die Welt war rot. Meine Haut schimmerte vor hastigen Schatten, die sich wie Schlangen wanden. Langsam und nur mit Mühe gelang es mir, meinen Kopf umzuwenden und Grant anzusehen. Regen prasselte in sein Gesicht und dampfte. Seine Augen waren schwarz, tiefschwarz bis in die tiefsten Tiefen. Die Venen, die an seinem Hals pochten, waren ebenfalls von einem tiefen Schwarz.
Furchtbar, monströs und wunderschön. Ich konnte seine Stimme nicht mehr hören, aber die Luft um ihn herum vibrierte in Hitzewellen. Die Erde bebte und zwang ein paar Mahati, sich hinzuknien. Andere stürzten sich auf uns und rannten mit scharfen Fingern auf unsere Herzen zu. Ich hätte erwartet, dass Dek und Mal sie aufhalten würden, aber die kleinen Dämonen bewegten sich nicht, und die Mahati zerfielen zu Asche, noch bevor sie uns berührten.
Grant warf den Kopf zurück. Er zitterte. Seine Haut riss auf und blutete, genau wie an meinen Händen.
Hör auf!, befahl ich mir selbst.
Du hast es so gewollt , erwiderte jene Stimme. Dies hier, das ist noch gar nichts – verglichen mit dem, was ich dir geben könnte.
Stimmen füllten meinen Kopf. Ein heulendes Brüllen. Ich schloss die Augen, konzentrierte mich auf meine Verbindung
mit Grant und schlang meine Seele darum. Und um ihn. Ich versuchte, ihn vor der Finsternis in mir zu beschützen.
Bleib, wie du bist , sagte ich zu ihm und hoffte, er könne mich hören. Verlier dich nicht darin.
Nicht wie ich.
Meine rechte Hand brannte. Vor einem Hintergrund aus Finsternis und Licht fand ich mich plötzlich in der Erinnerung des Rings der Saat – der Turm, die Bücher, der Duft von Rosen. Grant stand zitternd bei mir.
Dieser Mann, mein Vater, war ebenfalls da. Ich konnte aber sein Gesicht nicht erkennen.
»Tu, was du tun musst «, sagte er und zeigte auf den Dolch in seinen Händen. Auf der Klinge schimmerten komplizierte Gravuren, die mich schwindeln ließen. Am
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