Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
Lachen.
Aufgebracht funkelte Will ihn an. »Das ist nicht lustig. Ich wusste doch nicht, ob ihr anderen noch auftauchen würdet.«
»Hast du ernsthaft geglaubt, wir würden nicht nach dir suchen, wenn das ganze Gebäude wie eine Fackel in Flammen aufgeht?«, fragte Jem sachlich. »Schließlich wäre es durchaus denkbar gewesen, dass die Vampire dich auf einen Spieß gesteckt und über dem Feuer geröstet hätten.«
»Und Tessa, dieses dumme Ding, hatte eigentlich längst mit Magnus aus dem Gebäude verschwunden sein sollen. Aber sie wollte nicht gehen ...«
»Ihr Bruder war mit Hand- und Fußschellen an diesen Stuhl gefesselt«, gab Jem zu bedenken. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich an ihrer Stelle das Haus verlassen hätte.«
»Ah, verstehe, du willst meine Ausführungen nicht begreifen.«
»Wenn sich deine Ausführungen darauf beschränken, dass ein hübsches Mädchen im Raum war und dich abgelenkt hat, dann denke ich, dass ich deine Ausführungen durchaus verstanden habe.«
»Du hältst sie für hübsch?«, fragte Will überrascht, weil Jem zu derartigen Dingen nur selten seine Meinung äußerte.
»Ja, und du denkst dasselbe.«
»Ehrlich gesagt, ist mir das noch gar nicht aufgefallen . .«
»Doch, das ist es sehr wohl, und mir ist aufgefallen, dass es dir aufgefallen ist.« Jem lächelte. Trotz des Kampfes machte er an diesem Abend einen gesunden Eindruck: Seine Wangen waren leicht gerötet und seine Augen schimmerten in einem dunklen, beständigen Silber - ganz im Gegensatz zu den Zeiten, wenn er gerade einen schweren Krankheitsschub erlitt, der seinen Augen sämtliche Farbe zu entziehen schien und sie schrecklich blass, fast weiß wirken ließ, bis seine schwarzen Pupillen winzigen Aschepartikeln in einer Schneelandschaft ähnelten. In diesen Phasen fiel er auch regelmäßig ins Delirium. Will hatte Jem schon mehrfach auf dem Bett festgehalten, während dieser um sich trat, in einer fremden Sprache schrie und schließlich die Augen nach hinten verdrehte. Und jedes Mal hatte Will gedacht, dass nun der Moment gekommen sei - dass Jem nun sterben würde. Manchmal hatte er in dieser Situation darüber nachzudenken versucht, was er danach wohl tun würde, doch er konnte es sich einfach nicht vorstellen. Genauso wenig wie er zurückschauen und sich an sein Leben erinnern konnte, bevor Jem ins Institut gekommen war. Will mochte weder bei dem einen noch bei dem anderen Gedanken lange verweilen.
Doch dann gab es auch wieder andere Zeiten - so wie diesen Abend, an dem er keinerlei Anzeichen der Krankheit an Jem erkennen konnte. Und dann fragte er sich, wie es wohl wäre, in einer Welt zu leben, in der Jem nicht todkrank war. Aber auch bei diesem Gedanken mochte er nicht verweilen. Tief in seinem Inneren befand sich ein schreckliches schwarzes Loch, aus dem die Angst entsprang - eine dunkle Stimme, die er nur durch Wut, Gefahr und Schmerz zum Schweigen bringen konnte.
»Will.« Jems Stimme schnitt durch Wills unerfreuliche Betrachtungen. »Hast du auch nur ein Wort von dem gehört, was ich in den vergangenen fünf Minuten gesagt habe?«
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Wir brauchen nicht über Tessa zu reden, wenn du das nicht möchtest.«
»Es geht nicht um Tessa.« Und das entsprach auch der Wahrheit. Will hatte nicht an Tessa gedacht. Allmählich entwickelte er großes Geschick darin, nicht an sie zu denken - es bedurfte nur regelmäßiger Übung und Willenskraft. »Eines der Nachtkinder hatte einen Domestiken, der mich angefallen hat. Ich habe ihn getötet«, sagte Will. »Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Er war nur ein dummer kleiner Junge, aber ich habe ihn getötet.«
»Er war ein Finsterling«, widersprach Jem. »Er war bereits im Begriff, sich in einen Vampir zu verwandeln. Es war nur noch eine Frage der Zeit.«
»Er war nur ein dummer Junge«, wiederholte Will und drehte das Gesicht zum Fenster, obwohl er aufgrund der Helligkeit im Kutscheninneren nur sein eigenes Spiegelbild in der Scheibe sehen konnte. »Wenn wir zu Hause sind, werde ich mich sinnlos betrinken«, fügte er hinzu. »Ich denke, mir bleibt gar nichts anderes übrig.«
»Nein, das wirst du nicht tun«, entgegnete Jem. »Denn du weißt genau, was geschieht, sobald wir zu Hause ankommen.«
Statt einer Antwort zog Will nur eine finstere Miene.
In der Kutsche vor Will und Jem saß Tessa gegenüber von Henry und Charlotte auf einer weichen Polsterbank. Die beiden unterhielten sich in gedämpftem Ton über die Ereignisse
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