Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
des Abends. Tessa ließ ihre Worte einfach an sich vorbeirauschen und hörte nur mit halbem Ohr zu. Lediglich zwei Schattenjäger waren bei dem Einsatz ums Leben gekommen, aber de Quinceys Flucht bedeutete eine Katastrophe und Charlotte sorgte sich, dass die Brigade sie dafür verantwortlich machen würde. Henry versuchte, sie zu beruhigen, doch Charlotte schien untröstlich. Tessa hätte bestimmt Mitleid mit ihr empfunden, wenn sie auch nur noch einen Funken Energie im Leib gehabt hätte.
Nathaniel lag quer neben ihr; sein Kopf ruhte auf ihrem Schoß. Sie beugte sich über ihn und streichelte ihm mit ihren behandschuhten Fingern über das verfilzte Haar. »Nate«, wisperte sie leise, in der Hoffnung, dass Charlotte sie nicht hörte. »Es wird alles gut. Mach dir keine Sorgen - es wird alles gut.«
Nathaniels Wimpern flatterten und er schlug die Augen auf. Dann hob er eine Hand - seine Fingernägel waren abgebrochen und seine Gelenke geschwollen und gerötet - und griff nach ihrer Hand, verschränkte seine Finger mit ihren. »Geh nicht fort«, brachte er mühsam hervor. Seine Lider flatterten erneut - es war deutlich, dass er zwischen Bewusstsein und Ohnmacht hin und her schwankte. »Tessie, bitte bleib.«
Niemand anderes auf der Welt hatte sie je so genannt. Tessa schloss die Augen und unterdrückte die Tränen, so gut sie konnte. Sie wollte nicht, dass Charlotte oder sonst irgendein Schattenjäger sie weinen sah.
12
BLUT UND WASSER
Ich wage kaum zu berühren, damit nicht der Kuss
verbrennt meine Lippen. Ach, Herr, welch kleinen Genuss,
bitter-kurzen Genuss, man erhält für eine große Sünd'
Doch Du weißt, wie süß er ist, welch' Wonn' im Überfluss.
ALGERNON CHARLES SWINBURNE,
»LAUS VENERIS«
Als sie am Institut eintrafen, wurden sie bereits von Sophie und Agatha erwartet, die mit flackernden Laternen in der weit geöffneten Tür standen. Vor Müdigkeit wäre Tessa beim Aussteigen aus der Kutsche fast gestrauchelt und sie stellte überrascht und dankbar fest, dass Sophie sofort herbeieilte und ihr die Stufen hinaufhalf. Charlotte und Henry hatten Nathaniel unter den Armen gepackt und schleppten ihn die Treppe hoch. Hinter ihnen ratterte der Einspänner mit Will und Jem durch das Tor und Thomas' tiefe Stimme klang klar durch die kühle Nachtluft, als er Sophie und Agatha begrüßte. Jessamine war dagegen nirgends zu sehen - was Tessa allerdings nicht überraschte.
Charlotte und Henry brachten Nathaniel in ein Zimmer, das Tessas Schlafzimmer sehr ähnelte - das gleiche schwere Mobiliar aus dunklem Holz, das gleiche große Bett und der gleiche wuchtige Kleiderschrank. Während Charlotte und Agatha ihren Bruder ins Bett steckten, ließ Tessa sich in einen der Sessel sinken, fast fiebernd vor Sorge und Erschöpfung. Stimmen, gedämpft wie in einem Krankenzimmer, schwirrten um sie herum. Sie hörte, wie Charlotte von den Brüdern der Stille sprach und Henry leise irgendetwas erwiderte. Nach einer Weile tauchte Sophie an ihrer Seite auf und drängte sie, etwas zu trinken: Sie reichte ihr eine Tasse mit einer heißen, süßsauren Flüssigkeit, die bereits nach dem ersten Schluck durch Tessas Adern zu strömen schien und ihr langsam neue Kraft schenkte. Kurz darauf konnte sie sich sogar schon wieder aufsetzen, und als sie sich ein wenig umschaute, registrierte sie überrascht, dass der Raum bis auf ihren Bruder und sie leer war. Alle anderen hatten sich dezent zurückgezogen.
Besorgt schaute sie auf Nathaniel hinunter. Er lag vollkommen reglos da, sein bleiches Gesicht mit Blutergüssen übersät, die verfilzten Haare gegen das Kopfkissen gedrückt. Mit einem Stich im Herzen erinnerte Tessa sich an ihren elegant gekleideten Bruder von früher, dessen Haare immer sorgfältig gepflegt und gekämmt gewesen waren und dessen Schuhwerk nie auch nur den kleinsten Fleck aufgewiesen hatte. Der Nathaniel, der nun vor ihr im Bett lag, sah nicht aus wie jemand, der seine kleine Schwester fröhlich tanzend im Wohnzimmer herumgewirbelt oder der vor lauter Lebensfreude leise vor sich hin gesummt hatte.
Tessa beugte sich vor, um sein Gesicht eingehender zu untersuchen, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Rasch drehte sie den Kopf, stellte aber fest, dass sie nur ihr eigenes Spiegelbild gesehen hatte, das vom Spiegel an der gegenüberliegenden Wand reflektiert wurde. In Camilles Kleid wirkte sie selbst in ihren eigenen Augen wie ein kleines Mädchen, das große Dame spielte - sie war viel zu schmächtig für
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