Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
diese äußerst elegante Robe. Sie sah aus wie ein Kind, ein albernes Kind. Kein Wunder, dass Will ...
»Tessie?« Nathaniels schwache, zittrige Stimme riss sie sofort aus ihren Gedanken. »Tessie, bitte lass mich nicht allein. Ich glaube ... ich bin krank.«
»Nate.« Tessa griff nach seiner Hand und nahm sie zwischen ihre behandschuhten Finger. »Du wirst wieder gesund. Es ist alles in Ordnung. Sie haben schon nach den Ärzten geschickt ...«
»Wer ist ›Sie‹?«, stieß er mit dünner, hoher Stimme hervor. »Wo sind wir hier? Ich kenne diesen Ort nicht.«
»Wir sind im Londoner Institut der Schattenjäger. Hier bist du in Sicherheit.«
Nathaniel blinzelte. Dunkle, fast schwarze Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab und seine Lippen waren aufgeplatzt und verkrustet, vermutlich mit getrocknetem Blut. Sein Blick sprang unruhig hin und her, ohne irgendwo länger als eine Sekunde zu verweilen. »Schattenjäger«, hauchte er matt, »ich hätte nicht gedacht, dass sie wirklich existieren ...« Plötzlich wisperte er leise: »Der Magister ...«, und Tessa zuckte nervös zusammen. »Der Magister hat gesagt, sie seien das Gesetz. Er sagte, man müsse sich vor ihnen in Acht nehmen. Aber in dieser Welt existieren keine Gesetze. Hier gibt es keine Strafe - nur töten und getötet werden«, flüsterte er und fuhr dann mit lauterer Stimme fort: »Tessie, es tut mir so leid ... einfach alles ...«
»Der Magister - meinst du damit de Quincey?«, hakte Tessa nach, aber im nächsten Moment gab Nate ein Röcheln von sich und starrte an ihr vorbei, die Augen vor Angst weit aufgerissen. Tessa ließ seine Hand los und drehte sich um, um nachzusehen, was ihn so erschreckt hatte.
Charlotte war fast geräuschlos eingetreten. Sie trug noch immer ihre Schattenjägermontur, hatte sich allerdings einen altmodischen, langen Umhang übergeworfen, der von einer doppelten Schnalle am Hals zusammengehalten wurde. Sie wirkte sehr klein - ein Eindruck, der dadurch verstärkt wurde, dass Bruder Enoch neben ihr stand und einen riesigen Schatten auf den Boden warf. Wie am Tag ihrer ersten Begegnung trug er wieder die pergamentfarbene Robe; allerdings hielt er nun einen schwarzen Stab in der Hand, dessen Knauf in Gestalt zweier dunkler Flügel geschnitzt war. Er hatte die Kapuze hochgeschlagen, sodass seine Gesichtszüge im Schatten lagen.
»Tessa, du erinnerst dich bestimmt an Bruder Enoch«, sagte Charlotte. »Er ist gekommen, um Nathaniel zu helfen.«
Im selben Moment stieß Nate einen fast animalischen Schrei aus und griff entsetzt nach Tessas Handgelenk. Sie sah ihn verwirrt an: »Was hast du, Nathaniel? Was ist los?«
»De Quincey hat mir von ihnen erzählt«, keuchte Nathaniel. »Die Gregori ... die Stillen Brüder. Es heißt, sie können einen Mann allein durch ihre Gedanken töten.« Er schauderte. »Tessa.« Seine Stimme war kaum noch ein Wispern. »Sieh dir doch nur sein Gesicht an.«
Und Tessa schaute Bruder Enoch ins Gesicht, der während ihres kurzen Wortwechsels mit ihrem Bruder die Kapuze geräuschlos nach hinten geschoben hatte. Leere, glatte Augenhöhlen reflektierten das Elbenlicht, das die schwarzen Nähte über den Lippen unbarmherzig zum Vorschein kommen ließ.
Bedächtig trat Charlotte einen Schritt vor. »Wenn Bruder Enoch nun Mr Gray untersuchen könnte ...«, setzte sie an.
»Nein!«, schrie Tessa sofort auf. Sie befreite ihre Hand aus Nates Umklammerung und postierte sich zwischen ihrem Bruder und dem Mann in der pergamentfarbenen Robe. »Rührt ihn ja nicht an.«
Bestürzt hielt Charlotte inne. »Aber die Brüder der Stille sind unsere besten Heilkundigen. Ohne Bruder Enochs Hilfe wird Nathaniel ...« Sie verstummte einen Moment und fuhr dann leise fort. »Nun ja, ansonsten können wir nicht viel für ihn tun.«
Miss Gray.
Tessa benötigte einen Augenblick, bis sie erkannte, dass ihr Name nicht laut ausgesprochen worden war, sondern wie der Fetzen eines halb vergessenen Liedes in ihrem Kopf widerhallte. Allerdings nicht in der Stimme ihrer eigenen Gedanken. Dies hier war eine andere, fremde, harsche Stimme - Bruder Enochs Stimme. Auf dieselbe Weise hatte er sich auch an ihrem ersten Tag im Institut an sie gewandt.
»Es ist wirklich interessant, Miss Gray«, fuhr Bruder Enoch fort, »dass Sie ein Schattenwesen sind, Ihr Bruder indes nicht. Wie konnte es dazu kommen?«
Abrupt hielt Tessa inne. »Das ... das können Sie nur durch einen Blick auf ihn erkennen?«, fragte sie ungläubig.
»Tessie!«
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