Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
Sie ihm«, stammelte sie und griff nach Bruder Enochs Ärmel, was sie jedoch sofort bereute: Der Arm unter dem Stoff war hart wie Marmor und fühlte sich eiskalt an. Entsetzt zog sie ihre Hand zurück, doch der Bruder der Stille schien sie gar nicht wahrzunehmen. Er war um sie herum ans Bett getreten und legte nun zwei narbenübersäte Finger auf Nathaniels Stirn. Sofort schloss Nathaniel die Augen und sank zurück in die Kissen.
»Sie müssen jetzt gehen«, richtete Bruder Enoch erneut das Wort an Tessa, ohne sich jedoch vom Bett abzuwenden. »Ihre Anwesenheit wird seinen Heilungsprozess nur verzögern.«
»Aber Nate hat mich gebeten, zu bleiben ...«
»Gehen Sie!« Die Stimme in Tessas Kopf klang eisig.
Tessa warf einen Blick auf ihren Bruder: Er lag reglos in den Kissen, sein Gesicht völlig erschlafft. Als sie sich zu Charlotte umdrehte, um zu protestieren, begegnete die Schattenjägerin ihrem Blick jedoch mit einem leisen Kopfschütteln. Der Ausdruck in ihren Augen war teilnahmsvoll, aber unnachgiebig.
»Ich werde dir sofort Bescheid geben, sobald sich der Zustand deines Bruders verbessert«, versicherte sie Tessa. »Das verspreche ich dir.«
Noch immer zweifelnd, schaute Tessa zu Bruder Enoch. Er hatte inzwischen einen Beutel von seinem Gürtel genommen und langsam und methodisch mehrere Gegenstände auf das Nachttischschränkchen platziert: Glasphiolen mit verschiedenen Pulvern und Flüssigkeiten, Bündel getrockneter Pflanzen, kurze Stäbe aus irgendeiner schwarzen Substanz, die an Fettkohle erinnerte. »Falls Nate irgendetwas zustoßen sollte, werde ich Ihnen das nie verzeihen«, wandte Tessa sich an den Bruder der Stille. »Niemals!«
Doch genauso gut hätte sie auch mit einer Statue reden können - Bruder Enoch zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Resigniert floh Tessa aus dem Zimmer.
Nach dem dämmrigen Licht in Nates Krankenzimmer stach die Helligkeit der Elbenlichtleuchten im Flur Tessa regelrecht in den Augen. Niedergeschlagen lehnte sie sich an die Wand neben der Tür und kämpfte gegen die Tränen an.
Dies war schon das zweite Mal an diesem Abend, dass sie fast in Tränen ausgebrochen wäre, und sie war sehr ungehalten über sich selbst. Verärgert ballte sie die rechte Hand zur Faust und schlug so fest gegen die Wand hinter ihr, dass ein heftiger Schmerz durch ihren Arm jagte. Und der beseitigte ihre Tränen sofort und machte ihren Kopf wieder frei.
»Das sah aus, als hätte es wirklich wehgetan.«
Überrascht fuhr Tessa herum. Jem war so lautlos wie eine Katze hinter ihr im Flur aufgetaucht. Er hatte die Kampfmontur abgelegt und trug eine weite dunkle Hose und ein weißes Hemd, das nur wenige Töne heller wirkte als sein Teint. Sein feines helles Haar schimmerte feucht und kringelte sich an den Schläfen und im Nacken.
»Stimmt, es hat wehgetan«, räumte Tessa ein und drückte die malträtierte Hand an ihre Brust. Der Handschuh hatte den Schlag etwas abgemildert, aber ihre Knöchel schmerzten noch immer.
»Dein Bruder ... wird er wieder gesund werden?«, fragte Jem teilnahmsvoll.
»Ich weiß es nicht. Er ist da drin, mit einem dieser ... dieser Mönchswesen.«
»Bruder Enoch.« Jem schenkte Tessa einen verständnisvollen Blick. »Ich weiß, welchen Eindruck die Brüder der Stille erwecken, aber sie sind wirklich exzellente Ärzte. Sie verstehen sich hervorragend auf die Kunst der Heilung, und da sie sehr lange leben, verfügen sie auch über einen immensen Wissensschatz.«
»Es erscheint mir kaum erstrebenswert, ein langes Leben zu führen, wenn man dann so aussieht ...«
Seine Mundwinkel zuckten. »Ich vermute, das hängt ganz davon ab, wofür man lebt.« Er musterte sie eingehender.
Jem hatte eine ganz besondere Art, andere anzusehen, überlegte Tessa - so als könnte er durch sie hindurchschauen. Doch nichts, was er dort sah oder wahrnahm, schien ihn zu beunruhigen, zu verärgern oder zu enttäuschen. »Bruder Enoch ...«, nahm sie den Faden abrupt wieder auf. »Weißt du, was er gesagt hat? Er hat mir mitgeteilt, dass Nate anders ist als ich. Er ist durch und durch ein Mensch. Und besitzt überhaupt keine besonderen Kräfte.«
»Und das bestürzt dich?«
»Ich bin mir nicht sicher. Einerseits würde ich ihm diese ... diese Sache ... niemals wünschen, weder ihm noch sonst irgendjemandem. Aber wenn er anders ist als ich, dann bedeutet das, dass er nicht hundertprozentig mit mir verwandt und bestenfalls mein Halbbruder sein kann. Allerdings ist er der Sohn meiner Eltern. Nur
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