Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
davon ab?«
»Ich gehe einfach zu meinem Lieblingsort in London«, erklärte Jem. »Und dort stehe ich einfach nur da, schaue aufs Wasser und denke über den Fortgang des Lebens nach und wie der Fluss einfach weiterströmt, vollkommen blind gegenüber den kleinen Dramen in unserem Leben.«
»Und das funktioniert?«, fragte Tessa fasziniert.
»Ehrlich gesagt, nein. Aber dann denke ich daran, dass ich Will, wenn ich es wirklich wollte, jederzeit im Schlaf töten könnte - und schon geht es mir besser.«
Tessa kicherte. »Und wo ist dieser Ort? Dein Lieblingsort in London?«
Einen Moment lang zögerte Jem. Dann sprang er federnd auf die Füße und streckte Tessa die Hand entgegen, die nicht den Spazierstock hielt. »Komm, ich werde ihn dir zeigen.«
»Ist es weit weg?«
»Überhaupt nicht. Genau das Richtige für einen kleinen Spaziergang«, erklärte Jem lächelnd. Er hatte ein wundervolles, sehr ansteckendes Lächeln, dachte Tessa. Sie konnte nicht umhin, ihm ebenfalls ein Lächeln zu schenken - das erste seit einer gefühlten Ewigkeit, schoss es ihr durch den Kopf.
Tessa ließ sich von der Stufe aufhelfen. Jems Hand war warm und kräftig und überraschend beruhigend. Sie warf einen schnellen Blick zurück zum Institut, zögerte kurz und erlaubte Jem schließlich, sie zum Eisentor und hinaus in die Schatten der Stadt zu ziehen.
14
BLACKFRIARS BRIDGE
Zwanzig Brücken - vom Tower bis Kew-Garten
wollten sie hören und nicht länger warten.
Denn sie waren jung und die Themse bejahrt.
Es folgt die Geschichte, die der Fluss hat bewahrt.
RUDYARD KIPLING,
»DIE GESCHICHTE DES FLUSSES«
Als Tessa durch das Eisentor des Instituts trat, kam sie sich ein wenig vor wie Dornröschen, das zum ersten Mal das von einer hohen Hecke umgebene Schloss verlässt. Das Institutsgelände lag in der Mitte eines Platzes, von dem aus Straßen in alle vier Himmelsrichtungen fortführten und sich im engen Labyrinth der angrenzenden Häuser verloren.
Jem hatte höflich eine Hand unter Tessas Ellbogen gelegt und geleitete sie durch eine schmale Gasse. Der Himmel über ihnen schimmerte stahlgrau, der Untergrund glänzte noch feucht von den Regenschauern der Nachmittagsstunden und die Fassaden der Häuser, die sich tief in die Gasse hineinzuschieben schienen, waren nass und vom Kohlenstaub dunkel verfärbt.
Auf ihrem Weg redete Jem in einem fort - wobei er jedoch nichts von Bedeutung sagte, sondern einfach nur beruhigend plauderte und ihr berichtete, was er bei seinem ersten Eintreffen in London von der Stadt gedacht hatte. Wie unglaublich grau ihm alles erschienen war - selbst die Bewohner! Er hatte es gar nicht für möglich gehalten, dass es an einem einzigen Ort so ausgiebig und unaufhörlich regnen konnte, und nach einer Weile hatte ihn fast das Gefühl beschlichen, dass die ständig aus dem Boden aufsteigende Feuchtigkeit ihm allmählich in die Knochen drang und er bald selbst Schimmel ansetzen würde wie ein von einem Pilz befallener Baum. »Aber man gewöhnt sich daran«, erklärte er, als sie die schmale Gasse hinter sich ließen und hinaus auf die breite Fleet Street traten. »Selbst wenn man manchmal den Eindruck hat, dass man wie ein nasser Waschlappen ausgewrungen werden müsste.«
Tessa erinnerte sich an das Chaos auf Londons Straßen bei Tag und stellte erleichtert fest, wie viel ruhiger es hier am Abend zuging - die dicht gedrängte Menge hatte ein paar vereinzelten Gestalten Platz gemacht, die mit gesenktem Kopf über die Gehwege eilten. Auf der Fleet Street waren zwar noch ein paar Kutschen und sogar der ein oder andere Reiter unterwegs, doch keiner von ihnen schien Tessa oder Jem zu bemerken. Ob Jem sie wohl mit Zauberglanz kaschiert hatte, fragte Tessa sich, unterbrach ihn aber nicht, da sie sein Geplauder genoss.
Dies war der älteste Teil der Stadt - der Ort, an dem das ursprüngliche London entstanden war, erzählte Jem, während sie weiterspazierten. Die meisten Geschäfte entlang der Straße hatten zu dieser Abendstunde bereits geschlossen, aber ihre Werbung schrie ihnen von jeder Oberfläche entgegen: Reklame für transparente Glyzerinseife der Firma Pears, für Haarwasser und sogar für öffentliche Vorträge zum Thema Spiritismus. Hin und wieder konnte Tessa den hohen Turm des Instituts zwischen den Gebäuden erkennen und sie fragte sich, ob er wohl auch für andere Leute sichtbar war. Mit Schaudern erinnerte sie sich an die Papageienfrau mit der grünen Haut und dem bunten Federschopf. War das Institut
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