Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
Bruder vielleicht sonst noch alles weiß.«
»Vielleicht wollt ihr ja all diese Dinge wissen«, erwiderte Tessa, »aber das ist nicht mein Krieg. Ich bin keine Schattenjägerin.«
»In der Tat«, bestätigte Will sarkastisch. »Glaub ja nicht, dass wir uns dessen nicht bewusst wären.«
»Halt den Mund, Will«, wies Charlotte ihn in einem Ton zurecht, der deutlich mehr Schärfe als üblich enthielt. Dann wandte sie sich erneut an Tessa, mit einem flehentlichen Blick in den braunen Augen. »Wir vertrauen dir, Tessa. Und du musst uns auch vertrauen.«
»Nein«, sagte Tessa. »Nein, das kann ich nicht.« Sie spürte Wills Blick auf sich und wurde plötzlich von einer rasenden Wut erfasst. Wie konnte er es nur wagen, sich ihr gegenüber so kalt und abweisend zu verhalten? Was hatte sie denn getan, um so behandelt zu werden? Sie hatte ihm erlaubt, sie zu küssen. Aber das war auch schon alles. Irgendwie schien es, als würde diese Tatsache sämtliche anderen Ereignisse des Abends in den Hintergrund drängen als spielte es nun, da sie Will geküsst hatte, keine Rolle mehr, dass auch sie tapfer und mutig gewesen war. »Ihr habt mich benutzt«, stieß sie aufgebracht hervor, »genau wie die Dunklen Schwestern. Und bei der erstbesten Gelegenheit, als nämlich Lady Belcourt auftauchte und ihr mich gebrauchen konntet, habt ihr mich dazu aufgefordert, meine Fähigkeit einzusetzen - ganz gleich, wie gefährlich dieses Unterfangen auch sein mochte! Ihr tut so, als hätte ich eine besondere Verantwortung gegenüber eurer Welt, euren Gesetzen und eurem Abkommen, aber dies ist eure Welt und ihr seid diejenigen, die sie regieren solltet. Es ist nicht mein Fehler, wenn ihr schlechte Arbeit leistet!«
Tessa sah, wie die Schattenjägerin erbleichte und in ihren Sessel sank, und spürte heftige Gewissensbisse - sie hatte mit ihren Worten keineswegs Charlotte treffen wollen. Trotzdem fuhr sie fort, unfähig, sich zurückzuhalten: »Ihr redet die ganze Zeit über nichts anderes als über Schattenweltler und dass ihr sie nicht hasst. Aber das sind nur Lippenbekenntnisse ... nichts als schöne Worte, die ihr nicht wirklich meint. Und was die Irdischen betrifft: Habt ihr je darüber nachgedacht, dass ihr sie vielleicht besser beschützen könntet, wenn sie euch nicht derart zuwider wären?« Tessa schaute zu Will, der blass geworden war, trotz seiner funkelnden Augen. Er wirkte irgendwie ... sie wusste nicht genau, wie sie seinen Gesichtsausdruck beschreiben sollte. Entsetzt, dachte sie, aber nicht ihretwegen - sein Entsetzen ging tiefer.
»Tessa ...«, setzte Charlotte zu einem Protest an.
Doch Tessa tastete bereits nach dem Türknauf und riss die Tür auf. Erst in letzter Sekunde, schon auf der Schwelle, drehte sie sich noch einmal zu den anderen um, die sie stumm anschauten. »Haltet euch von meinem Bruder fern«, fauchte sie. »Und wagt es nicht, mir zu folgen.«
Wut hatte etwas Befreiendes, solange man ihr nachgab, überlegte Tessa. Es verschaffte ein seltsames Gefühl der Genugtuung, in blindem Zorn zu brüllen und zu schreien, bis man seinem Herzen richtig Luft gemacht hatte.
Die Nachwirkungen waren natürlich weniger angenehm. Wenn man erst einmal allen Anwesenden an den Kopf geworfen hatte, wie sehr man sie hasste, und ihnen untersagt hatte, einem zu folgen, wohin sollte man sich dann wenden? Wenn sie nun einfach auf ihr Zimmer ging, kam das der Aussage gleich, dass sie lediglich einen Trotzanfall gehabt hatte und sich schon wieder beruhigen würde.
Sie konnte auch nicht zu Nate gehen und ihre düstere Laune in sein Krankenzimmer tragen. Und wenn sie sich irgendwo anders verkroch, ging sie das Risiko ein, dass Sophie oder Agatha sie schmollend vorfinden würden.
Nach kurzem Überlegen stieg Tessa die schmale Wendeltreppe hinunter, die durch die Geschosse des Instituts führte, durchquerte das von Elbenlicht erleuchtete Mittelschiff der Kirche und trat schließlich auf die breiten Stufen des Kirchenportals hinaus. Sie hockte sich auf die oberste Marmorstufe und schlang in der unerwartet kalten Brise zitternd die Arme um den Körper. Es musste geregnet haben, denn die Stufen schimmerten feucht und das schwarze Pflaster des Innenhofs glänzte wie ein Spiegel. Inzwischen war der Mond aufgegangen, tauchte immer wieder hinter jagenden Wolkenfetzen hervor und warf sein fahles Licht auf das gewaltige Eisentor. Staub und Schatten sind wir.
»Ich weiß, was du gerade denkst.« Die Stimme, die vom Kirchenportal zu Tessa drang, war so
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