Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
sagst es«, bestätigte Jem, doch in seinem Blick lag etwas Vorsichtiges, als würde er irgendetwas zurückhalten.
»Ich verstehe ihn einfach nicht«, grübelte Tessa. »In einem Moment ist er freundlich und im nächsten vollkommen abscheulich. Ich kann mich nicht entscheiden, ob Will nun nett oder grausam ist, liebenswert oder hasserfüllt . .«
»Spielt das denn eine Rolle?«, fragte Jem. »Ist es wirklich erforderlich, dass du solch eine Entscheidung triffst?«
»Letztens ... als er in dein Zimmer gekommen ist ... da hat er gesagt, er hätte die ganze Nacht getrunken«, fuhr Tessa unbeirrt fort. »Doch später dann, als du ... als du ... da schien er schlagartig nüchtern zu werden. Aber ich habe meinen Bruder oft genug betrunken erlebt, um genau zu wissen, dass ein Vollrausch nicht von einer Sekunde auf die nächste verschwindet. Selbst wenn meine Tante Nate einen Kübel eiskaltes Wasser ins Gesicht schüttete, konnte sie ihn damit nicht aus seinem Rausch wecken - jedenfalls nicht, wenn er wirklich volltrunken war. Außerdem hat Will überhaupt nicht nach Alkohol gerochen und am nächsten Morgen auch keinen Kater gehabt. Aber warum sollte er lügen und behaupten, er wäre betrunken, wenn das gar nicht stimmt?«
Jem seufzte resigniert. »Und genau das ist das ewige Rätsel namens Will Herondale. Ich habe mir früher genau die gleichen Fragen gestellt: Wie kann jemand so viel trinken, wie er von sich behauptet, und diesen Alkoholkonsum problemlos überleben? Ganz zu schweigen davon, in seinem Zustand noch so exzellent zu kämpfen, wie es bei ihm der Fall ist ... Also bin ich ihm eines Abends nachgegangen.«
»Du hast ihn verfolgt?«
Jem grinste schief. »Ja. Er verließ das Haus, unter dem Vorwand, er hätte ein Rendezvous mit irgendeiner Dame, und ich habe mich an seine Fersen geheftet. Wenn ich geahnt hätte, was mich erwartet, hätte ich festeres Schuhwerk angezogen. Will ist die ganze Nacht durch London gestreift, von St. Paul's zum Spitalfields Market und dann zur Whitechapel High Street. Anschließend hinunter zum Fluss und durch die Docks. Aber er ist nicht ein einziges Mal stehen geblieben und hat mit niemandem gesprochen. Es war fast, als würde man einem Gespenst folgen. Am nächsten Morgen hat er uns irgendeine Geschichte von seinen angeblichen Abenteuern aufgetischt, aber ich habe ihn nicht zur Rede gestellt. Wenn er mich zu belügen wünscht, wird er seine Gründe dafür haben.«
»Er belügt dich und dennoch vertraust du ihm?«
»Ja«, bestätigte Jem. »Ich vertraue ihm.«
»Aber ...«
»Will schwindelt ständig. Er erfindet andauernd irgendeine Geschichte, die ihn in einem besonders üblen Licht dastehen lässt.«
»Und hat er dir erzählt, was mit seinen Eltern passiert ist? Sei es nun eine Lüge oder die Wahrheit .
»Nein, nicht ausführlich ... nur in Teilen«, sagte Jem nach kurzem Überlegen. »Ich weiß, dass sein Vater die Nephilim verlassen hat. Noch vor Wills Geburt. Er hatte sich wohl in eine Irdische verliebt, und als der Rat es ablehnte, sie ebenfalls zur Nephilim zu machen, verließ er die Schattenjägergemeinschaft und zog mit ihr an einen entlegenen Ort in Wales, wo die beiden offensichtlich glaubten, dass man sie in Ruhe lassen würde. Doch der Rat schäumte vor Wut.«
»Wills Mutter war eine Irdische?«, fragte Tessa überrascht. »Bedeutet das, dass er nur ein Halb-Nephilim ist?«
»Das Blut der Nephilim ist dominant«, erläuterte Jem. »Aus diesem Grund wurden auch drei Regeln für diejenigen aufgestellt, die die Schattenjägergemeinschaft verlassen. Erstens: Man muss jeglichen Kontakt zu allen Schattenjägern abbrechen, selbst zu Freunden und engsten Verwandten. Diese dürfen nie wieder mit dem Betreffenden ein Wort wechseln - und umgekehrt. Zweitens: Man kann den Rat nie wieder um Hilfe bitten, ganz gleich, in welcher Gefahr man auch schweben mag. Und drittens ...« Jem schwieg einen Moment. »Und drittens?«, fragte Tessa.
»Die dritte Regel besagt: Selbst wenn ein Nephilim die Schattenjägergemeinschaft verlässt, können sie immer noch Anspruch auf seine Kinder erheben«, erklärte Jem.
Tessa spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken jagte.
Jem schaute weiterhin über den Fluss, als könnte er Will in den silbern glitzernden Fluten sehen. »Alle sechs Jahre sucht ein Abgesandter der Schattenjägergemeinschaft die Familie auf, bis zum achtzehnten Geburtstag des Jungen oder Mädchens. Und dann fragt er das Kind, ob es seine Familie verlassen und zu den
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