Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
Nephilim kommen möchte.«
Tessa starrte ihn bestürzt an. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Kind diese Frage mit Ja beantworten würde. Ich meine, es dürfte dann doch nie wieder mit seiner Familie sprechen, oder?« Jem schüttelte den Kopf.
»Und Will hat eingewilligt? Er hat sich trotzdem den Schattenjägern angeschlossen?«
»Nein, er hat das Angebot abgelehnt. Zwei Mal hat er sich geweigert. Und dann ... eines Tages - Will muss etwas älter als zwölf gewesen sein - klopfte es an der Institutstür und Charlotte öffnete, um nachzusehen, wer die Schattenjäger zu sprechen wünschte. Ich glaube, sie war damals gerade achtzehn geworden. Und vor ihr stand Will. Charlotte erzählte mir, dass er von Kopf bis Fuß mit Staub und Dreck bespritzt war, als hätte er mehrere Nächte im Straßengraben geschlafen. Und er sagte: ›Ich bin ein Schattenjäger. Einer von euch. Ihr müsst mich einlassen. Ich kann sonst nirgendwohin.‹«
»Das hat er gesagt? Will? ›Ich kann sonst nirgendwohin‹?«
Jem zögerte. »Du musst wissen, dass ich all diese Informationen von Charlotte erfahren habe. Will hat diesen Teil der Geschichte mir gegenüber mit keiner Silbe erwähnt. Doch Charlotte behauptet, genau das seien seine Worte gewesen.«
»Aber ich verstehe das nicht. Seine Eltern ... sie sind doch tot, oder? Denn sonst hätten sie doch bestimmt nach ihm gesucht.«
»Das haben sie auch«, erwiderte Jem leise. »Ein paar Wochen nach Wills Ankunft sind seine Eltern ihm gefolgt, erzählte Charlotte. Sie haben gegen die Institutstür gehämmert und ihn zu sprechen verlangt. Daraufhin ist Charlotte in Wills Zimmer gegangen, um ihn zu fragen, ob er sie sehen wolle. Doch er hatte sich unter sein Bett verkrochen, sich mit beiden Händen die Ohren zugehalten und ließ sich durch nichts dazu bewegen hervorzukommen. Er wollte sie auf keinen Fall sehen. Ich glaube, dass Charlotte nach einer Weile aufgegeben hat, wieder nach unten gegangen ist und seine Eltern fortgeschickt hat. Vielleicht sind sie aber auch freiwillig gegangen - ich bin mir nicht ganz sicher ...«
»Charlotte hat sie fortgeschickt? Aber ihr Kind war doch im Institut. Sie hatten jedes Recht ...«
»Sie hatten keinerlei Rechte«, unterbrach Jem sie sanft. Trotzdem schwang in seinem Ton etwas mit, das ihn Tessa so fern erscheinen ließ wie der Mond. »Will hatte sich entschieden, den Schattenjägern beizutreten. Nachdem er einmal diese Entscheidung getroffen hatte, konnten sie keinerlei Ansprüche mehr auf ihn geltend machen. Es war das Recht und die Pflicht der Nephilim, sie fortzuschicken.«
»Und du hast ihn nie gefragt, warum er nicht mit seinen Eltern reden wollte?«
»Wenn er gewollt hätte, dass ich es erfahre, hätte er es mir erzählt«, erwiderte Jem ruhig. »Du hast mich vorhin gefragt, warum er mich wohl eher toleriert als andere Leute. Ich könnte mir vorstellen, dass es genau damit zusammenhängt - ich frage ihn nie nach dem Warum«, fügte er mit einem ironischen Lächeln hinzu. Die kalte Brise hatte seine Wangen gerötet, seine Augen funkelten und seine Hand ruhte dicht neben Tessas auf der Brüstung. Einen kurzen, halb verwirrten Moment glaubte Tessa, dass er seine Hand vielleicht auf ihre legen würde. Doch sein Blick streifte an ihr vorbei. Dann runzelte er die Stirn. »Ein wenig spät für einen Spaziergang, oder nicht?«
Tessa folgte seinem Blick und entdeckte zwei schemenhafte Gestalten - ein Mann und eine Frau, die über die Brücke auf sie zukamen. Der Mann trug einen typischen Filzhut der Arbeiterklasse und einen dunklen Wollmantel; die Frau hatte sich bei ihm untergehakt und ihm das Gesicht zugewandt. »Vermutlich denken sie dasselbe von uns«, überlegte Tessa und schaute zu Jem hoch. »Und was ist mit dir? Bist du auch zum Institut gekommen, weil du sonst nirgendwohin konntest? Warum bist du nicht in Shanghai geblieben?«
»Meine Eltern haben das dortige Institut geleitet«, erzählte Jem, »aber sie wurden von einem Dämon getötet. Er - es - trug den Namen Yanluo.« Seine Stimme klang vollkommen ruhig. »Nach ihrem Tod hielten alle es für das Beste, dass ich das Land verließ, falls der Dämon oder seine Kohorten es auch auf mich abgesehen hatten.«
»Aber warum bist du hierher gekommen, warum nach England?«
»Mein Vater war Engländer. Ich war der englischen Sprache mächtig. Es schien das Vernünftigste.« Jems Stimme wirkte weiterhin ruhig, doch Tessa spürte, dass er ihr irgendetwas verschwieg. »Ich dachte, ich
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