Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
der Dunkelheit auf. Die beiden stürmten durch den Eingang und Jem gab Tessas Hand frei, wirbelte herum und verriegelte das Tor von innen. Genau in dem Moment, als die Schlösser zuschnappten, erreichten die Kreaturen das Tor und krachten unter enormem Getöse gegen das Eisengitter - wie aufgezogene Spielzeugfiguren, die sich nicht mehr bremsen konnten.
Mit weit aufgerissenen Augen wich Tessa langsam in Richtung Institut zurück. Die Klockwerk-Kreaturen pressten sich gegen das Tor und ihre Hände griffen durch die Öffnungen im Gitter. Panisch schaute Tessa sich um. Jem stand neben ihr; er war kreidebleich und hielt sich die Seite. Als Tessa nach seiner Hand greifen wollte, trat er einen Schritt zurück.
»Tessa.« Seine Stimme klang zittrig. »Bring dich in Sicherheit. Du musst ins Institut. Lauf!«
»Bist du verletzt? Jem, bist du verletzt?«
»Nein«, erwiderte er mit erstickter Stimme.
Ein rasselndes Geräusch, das vom Tor herüberschallte, ließ Tessa aufschauen. Einer der Klockwerk-Männer hatte die Hände durch eine Öffnung im Gitterwerk geschoben und zerrte an der Eisenkette, die das Tor verschloss. Mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen sah sie, wie der Mann mit solcher Kraft an den Kettengliedern zog, dass sich die Haut von seinen Fingern löste und die Metallhände darunter zum Vorschein kamen. Unter seinem unerbittlichen Griff hatten die Kettenglieder bereits begonnen, sich zu verbiegen, und es war nur noch eine Frage von Minuten, bis die schwere Eisenkette nachgeben und brechen würde.
Tessa packte Jem am Arm. Seine Haut fühlte sich selbst durch die Kleidung hindurch fiebrig heiß an. »Komm. Komm schnell.«
Stöhnend ließ Jem sich von ihr zum Portal der Kirche ziehen, wobei er mehrfach strauchelte und sich schwer keuchend auf sie stützen musste. Gemeinsam torkelten sie die Steintreppe hinauf, doch als sie die oberste Stufe erreichten, entglitt Jem Tessas Griff. Mit schmerzverzerrtem Gesicht krümmte er sich zusammen und schlug mit den Knien auf den Boden auf, während heftige Hustenanfälle seinen Körper peinigten.
Im nächsten Moment flog das Tor krachend auf und die Klockwerk-Kreaturen ergossen sich in den Innenhof, angeführt von dem Mann, der die Kette zerrissen hatte und dessen gehäutete Hände im Mondlicht gespenstisch glänzten.
Tessa erinnerte sich an Wills Worte - »... die Eingangstür kann nur von jemandem geöffnet werden, der Schattenjägerblut besitzt« - und griff hektisch zum Klingelzug. Aber obwohl sie mehrfach mit aller Kraft daran zog, konnte sie auf der anderen Seite des schweren Portals keinen Gong hören. Verzweifelt wirbelte sie zu Jem herum, der noch immer auf dem Boden kniete. »Jem! Jem, bitte, du musst die Tür öffnen ...«
Mühsam hob Jem den Kopf. Seine Augen waren weit aufgerissen, aber hatten jede Farbe verloren: Sie schimmerten durchgehend weiß, wie Murmeln. Tessa konnte sehen, wie sich das Mondlicht darin spiegelte.
»Jem!«
Er versuchte, sich aufzurappeln, doch seine Knie gaben nach und er brach erneut zusammen. Blut lief aus seinen Mundwinkeln und der Spazierstock entglitt seiner Hand und rollte Tessa fast bis vor die Füße.
Inzwischen hatten die Kreaturen den Fuß der Treppe erreicht und kamen unter Leitung des Mannes mit den gehäuteten Händen leicht torkelnd die Stufen hinauf. Panisch warf Tessa sich gegen die Institutstür und hämmerte mit den Fäusten gegen das Eichenholz. Sie konnte den hohlen Widerhall ihrer Schläge auf der anderen Seite hören und war der Verzweiflung nahe: Das Institut war so riesig und es blieb ihnen so wenig Zeit.
Schließlich gab sie auf, drehte sich von der Tür fort und musste mit Entsetzen feststellen, dass der Anführer der Kreaturen Jem inzwischen erreicht hatte. Er stand über ihn gebeugt, die glänzenden Metallhände tief in die Brust des Schattenjägers getaucht.
Mit einem wütenden Aufschrei schnappte Tessa sich Jems Spazierstock und schwang ihn wild hin und her. »Lass ihn in Ruhe!«, brüllte sie. »Verschwinde!«
Die Kreatur richtete sich auf und im Licht des Mondes konnte Tessa zum ersten Mal sein Gesicht deutlich sehen: Es war glatt, fast ohne Merkmale. Dort, wo Mund und Augen sich hätten befinden sollen, waren nur leichte Vertiefungen zu erkennen und die Nase fehlte gänzlich. Der Mann hob die gehäuteten Hände, von denen Jems Blut herabtropfte, während Jem in einer dunkel schimmernden Lache vollkommen reglos dalag. Als Tessa entsetzt auf die Szenerie starrte, wackelte der
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