Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
half, Jem ins Gebäude zu tragen. Außerdem rief er noch irgendetwas anderes, das Tessa in ihrer Benommenheit aber nicht verstehen konnte. Vielleicht brüllte er ja sie an. Vielleicht dachte er ja, dass das alles ihre Schuld sei? Wenn sie nicht die Beherrschung verloren hätte, wenn sie nicht aus dem Salon gestürmt wäre und Jem dazu veranlasst hätte, ihr nachzugehen ...
Plötzlich tauchte in der hell erleuchteten Tür ein dunkler Schatten auf - Thomas, der mit wirren Haaren und ernstem Gesicht wortlos neben Will niederkniete. Gemeinsam hoben sie Jem auf die Füße, legten sich jeweils einen Arm um die Schultern und schleppten ihn hastig ins Innere der Kirche, ohne sich noch einmal nach Tessa umzusehen.
Benommen starrte Tessa in den Innenhof. Irgendetwas war seltsam, anders. Und dann wurde es ihr klar: Die plötzliche Stille nach dem lauten Kampfgetümmel wirkte fast unheimlich. Die zerstörten Klockwerk-Kreaturen lagen verstreut auf dem Pflaster, über das sich eine zähflüssige, ölige Flüssigkeit ergoss; die Flügel des Eisentors hingen schräg in den Angeln und der Mond schien bleich vom Himmel - genau wie wenige Minuten zuvor auf der Brücke, als Jem ihr gesagt hatte, dass auch sie ein Mensch sei.
15
FREMDLÄNDISCHER DRECK
Bei Gott, was wünscht' ich, die Liebe wäre
Blüten oder Funken gleich.
Das Leben dem Ersinnen eines Namens gleich,
Der Tod nicht trauriger als lüsternes Verzehren.
Bei Gott, was wünscht' ich, dass diese Dinge
nicht dasselbe wären!
ALGERNON CHARLES SWINBURNE,
»LAUS VENERIS«
»Miss Tessa!« Sophies Stimme schallte durch den Innenhof.
Langsam drehte Tessa sich um und sah das Dienstmädchen in der offenen Portaltür; eine flackernde Laterne baumelte in ihrer Hand.
»Ist alles in Ordnung, Miss Tessa?«, fragte sie und kam auf Tessa zu.
Der Anblick des anderen Mädchens erfüllte Tessa mit einer Woge der Dankbarkeit - sie hatte sich schrecklich einsam gefühlt. »Mir geht es gut, ich bin unverletzt. Henry hat sich allerdings an die Fersen dieser Kreaturen geheftet und Charlotte ...«
»Ach, keine Sorge. Die wissen sich schon zu helfen«, erwiderte Sophie beruhigend und legte Tessa eine Hand auf den Ellbogen. »Kommen Sie. Lassen Sie uns ins Haus gehen, Miss, und Sie verarzten. Sie bluten.«
»Tatsächlich?« Benommen befühlte Tessa ihre Stirn und betrachtete verwundert ihre rot verfärbten Fingerspitzen. »Ich muss mir den Kopf gestoßen haben, als ich auf die Stufen gestürzt bin. Aber ich habe überhaupt nichts davon bemerkt.«
»Das ist der Schock«, erklärte Sophie ruhig und Tessa fragte sich, wie oft das Mädchen während seiner Dienstzeit im Institut diese Dinge wohl schon verrichtet haben mochte - Wunden versorgen, Blutlachen fortwischen. »Kommen Sie, dann kann ich Ihnen einen Verband anlegen.«
Tessa nickte, warf noch einen letzten Blick auf das Bild der Zerstörung im Innenhof und ließ sich von Sophie ins Gebäude führen. Die nächsten Minuten glitten wie im Nebel an Tessa vorbei: Sophie half ihr die Treppe hinauf ins Obergeschoss, platzierte sie fürsorglich in einem der schweren Sessel im Salon, eilte dann davon und kehrte kurz darauf mit Agatha zurück, die Tessa eine Tasse mit heißer Flüssigkeit in die Hand drückte.
In dem Augenblick, als Tessa der Geruch des dampfenden Heißgetränks in die Nase stieg, wusste sie, worum es sich dabei handelte - Brandy und Wasser. Unwillkürlich musste sie an Nate denken und zögerte einen Moment, aber nachdem sie ein paar Mal vorsichtig an der heißen Tasse genippt hatte, schien die Welt um sie herum wieder klarer zu werden.
Kurze Zeit später kehrten Charlotte und Henry zurück und erfüllten den Raum mit typischem Kampfgeruch - einer Mischung aus Metall, Öl und Blut. Mit finsterer Miene legte Charlotte ihre Waffen auf den Tisch. Dann rief sie nach Will, der jedoch nicht reagierte; dafür erschien Thomas eilig in der Salontür und erklärte ihr, dass Will bei Jem sei und dass es Jem bald wieder besser gehen würde.
»Die Kreaturen haben ihn verwundet und er hat einiges an Blut verloren«, berichtete Thomas, fuhr sich mit der Hand durch die wirren braunen Haare und warf dabei Sophie einen Blick zu. »Aber Will hat ihn mit einer Heilrune versehen ...«
»Und was ist mit seiner Arznei?«, hakte Sophie rasch nach. »Hat er die auch bekommen?«
Als Thomas nickte, ließ die Anspannung in Sophies Schultern deutlich nach. Auch Charlottes Züge entspannten sich ein wenig. »Danke, Thomas«, sagte sie. »Vielleicht
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