Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
besonders erbaut darüber war, als er dir von seiner Krankheit berichtet hat. Er dachte, er wäre dir eine Erklärung schuldig, aber das ist völliger Unsinn. Jem schuldet niemandem etwas. An dem, was ihm widerfahren ist, hatte er nicht die geringste Schuld und dennoch lastet seine Krankheit schwer auf seinen Schultern und er schämt sich dafür ...«
»Es gibt nichts, weswegen er sich schämen müsste.«
»Das magst du so sehen. Aber andere machen keinen Unterschied zwischen seiner Krankheit und einer klassischen Sucht und verachten ihn wegen seiner vermeintlichen Schwäche. Als könnte er die Einnahme des Mittels einfach so einstellen, wenn er nur genügend Willenskraft besäße.« Will klang überraschend bitter. »Manche haben ihm das sogar direkt ins Gesicht gesagt. Und ich wollte nicht, dass er etwas Derartiges auch von dir zu hören bekommt.«
»So etwas hätte ich niemals gesagt.«
»Woher sollte ich wissen, was du vielleicht sagen würdest?«, erwiderte Will. »Schließlich kenne ich dich nicht besonders gut, Tessa, oder? Jedenfalls nicht mehr, als du mich kennst.«
»Du willst doch gar nicht, dass irgendjemand dich besser kennenlernt«, schnappte Tessa. »Und ich kann dir versichern, ich werde es auch nicht länger versuchen. Aber tu nicht so, als ob Jem genauso wäre wie du. Vielleicht möchte er ja sogar, dass andere Menschen erfahren, wer er wirklich ist.«
»Das solltest du besser lassen«, sagte Will, dessen blaue Augen sich verdüsterten. »Bilde dir nur nicht ein, du würdest Jem besser kennen als ich.«
»Wenn dir so viel an ihm liegt, warum unternimmst du dann nicht etwas, um ihm zu helfen? Warum suchst du nicht nach einem Heilmittel?«, konterte Tessa.
»Glaubst du ernsthaft, wir hätten nicht danach gesucht? Denkst du, Charlotte hätte keine intensiven Nachforschungen angestellt und Henry nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt? Meinst du wirklich, wir hätten nicht zig Hexenmeister bemüht, für jede Information gezahlt und etliche um Gefälligkeiten gebeten? Glaubst du etwa, Jems drohender Tod wäre eine Tatsache, die wir alle einfach so hinnehmen, ohne auch nur im Geringsten dagegen anzukämpfen?«, hielt Will entgegen.
»Jem hat mir gesagt, er habe euch alle gebeten, die Suche einzustellen«, erwiderte Tessa ruhig, obwohl sie Wills Wut spüren konnte. »Und ihr habt seinem Wunsch entsprochen - stimmt das etwa nicht?«
»Das hat er dir erzählt?«
»Habt ihr die Suche aufgegeben?«
»Da gibt es nichts zu suchen, Tessa. Es existiert kein Heilmittel.«
»Das weißt du doch gar nicht. Ihr könntet einfach weiterhin Ausschau halten, Jem aber nichts davon erzählen. Vielleicht findet sich ja doch ein Weg. Selbst die geringste Möglichkeit ...«
Will hob die Augenbrauen. Das flackernde Elbenlicht betonte seine hervortretenden Wangenknochen und die tiefen Schatten unter seinen Augen. »Dann meinst du also, wir sollten seinen Wunsch missachten?«
»Ich meine: Ihr solltet alles in eurer Macht Stehende versuchen - selbst wenn das bedeutet, dass ihr ihn anlügen müsst. Ich meine: Ich begreife einfach nicht, wieso ihr seinen drohenden Tod einfach so akzeptiert.«
»Und ich meine, du begreifst nicht, dass einem manchmal nur die Wahl zwischen Akzeptanz und Wahnsinn bleibt.«
Plötzlich räusperte sich jemand hinter Will und Tessa. »Was ist denn hier los?«, fragte eine vertraute Stimme aus den Schatten des Flurs.
Sowohl Tessa als auch Will waren so sehr ins Gespräch vertieft gewesen, dass sie nicht gehört hatten, wie Jem sich ihnen genähert hatte. Will zuckte schuldbewusst zusammen, ehe er sich seinem Freund zuwandte, der die beiden mit ruhigem Interesse betrachtete. Jem war vollständig bekleidet, erzeugte aber den Eindruck, als wäre er gerade aus einem Fiebertraum erwacht: Seine Haare standen in alle Richtungen und seine Wangen leuchteten rot.
Will wirkte überrascht und nicht besonders erfreut über Jems Anwesenheit. »Was tust du hier? Wieso bist du nicht im Bett?«, fragte er leicht gereizt.
»Ich habe eben mit Charlotte in der Eingangshalle gesprochen. Sie sagte, wir würden uns alle im Salon treffen, um mit Tessas Bruder zu reden«, erklärte Jem in sanftem Ton. Sein Gesichtsausdruck ließ keinerlei Rückschlüsse darauf zu, wie viel er von Tessas und Wills Diskussion mitbekommen hatte. »Immerhin geht es mir gut genug, um anderen zuzuhören«, fügte er hinzu.
»Ah, gut, da seid ihr ja alle.« Charlotte kam durch den Korridor geeilt, dicht gefolgt von Henry, Jessamine und
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