Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
Ich hab dich gesehen, bevor mich dieser alte Mistkerl mit den fehlenden Augen in die Finger bekommen hat. Also bin ich davon ausgegangen, dass sie dich ebenfalls gefangen halten, und wollte deshalb versuchen, uns beide hier rauszubringen.«
»Gefangen halten? Nein, Nate, da täuschst du dich.« Tessa schüttelte den Kopf. »Wir sind hier in Sicherheit.«
Nathaniel musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Dies ist doch das Institut, oder etwa nicht? Man hat mich vor diesem Ort gewarnt. De Quincey sagte, es würde von Geistesgestörten geführt, von Monstern, die sich selbst als Nephilim bezeichnen. Er sagte, sie würden die Seelen menschlicher Verdammter in irgendeinem Behältnis einsperren und diese würden vor Qual schreien ...«
»Was? Meinst du die Pyxis? Sie dient nur zur sicheren Aufbewahrung von Dämonenenergie, Nate, enthält aber keine Menschenseelen! Das Gefäß ist vollkommen harmlos. Wenn du mir nicht glaubst, kann ich es dir später zeigen, in der Waffenkammer ...«
Nate zog weiterhin eine finstere Miene. »De Quincey sagte, wenn die Nephilim mich in die Finger bekämen, würden sie mich in der Luft zerfetzen, Stück für Stück, weil ich gegen ihre Gesetze verstoßen habe«, stieß er düster hervor.
Ein eisiger Schauer jagte Tessa über den Rücken. Sie trat einen Schritt zurück und sah, dass eines der Salonfenster weit offen stand und die Vorhänge in der kalten Brise flatterten. Dann hatte sie also nicht nur vor Anspannung gefröstelt. »Hast du das Fenster geöffnet? Hier drin ist es so furchtbar kalt, Nate.«
»Nein - es stand bereits offen, als ich hereinkam.« Kopfschüttelnd durchquerte Tessa den Raum und schloss das Fenster. »Du wirst dir noch den Tod holen ...«
»Kümmere dich nicht um meinen Tod«, erwiderte Nate gereizt. »Was ist mit diesen Schattenjägern? Willst du mir ernsthaft sagen, dass sie dich nicht hier eingesperrt haben?«
»Ja, genau so ist es«, bestätigte Tessa und wandte sich vom Fenster ab. »Sie halten mich nicht gefangen. Die Schattenjäger mögen etwas seltsam sein, aber sie waren auch sehr freundlich zu mir. Ich wollte hierbleiben. Und sie waren so großzügig, mir dies zu gestatten.«
Nate schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.«
Tessa verspürte einen Anflug von Wut, was sie überraschte. Entschlossen unterdrückte sie ihre Verärgerung - das Ganze war nicht Nates Schuld. Es gab so viele Dinge, die er nicht wissen konnte. »Wohin hätte ich mich sonst wenden sollen, Nate?«, fragte sie, trat auf ihn zu, nahm ihn behutsam am Arm und führte ihn zu seinem Sessel zurück. »Komm, setz dich. Du verausgabst dich zu sehr.«
Folgsam ließ Nate sich in den Sessel sinken und schaute sie geistesabwesend an. Tessa kannte diesen Blick: Er bedeutete, dass ihr Bruder etwas ausheckte, irgendeinen verrückten Plan schmiedete, einen lächerlichen Traum träumte. »Wir können noch immer von hier verschwinden«, sinnierte er. »Nach Liverpool reisen ... uns auf einem Ozeandampfer einen Platz buchen. Und nach New York zurückkehren.«
»Und was genau machen wir dann dort?«, erwiderte Tessa so sanft wie nur möglich. »In New York gibt es für uns kein Zuhause mehr. Nicht seit Tante Harriets Tod. Ich war gezwungen, sämtliches Mobiliar zu verkaufen, um die Bestattungskosten bezahlen zu können. Und auch ihr kleines Häuschen musste ich aufgeben - mir fehlte das Geld für die Miete. Es ist nichts mehr da, wohin wir zurückkehren könnten, Nate.«
»Dann schaffen wir uns ein neues Zuhause. Beginnen ein neues Leben.«
Traurig musterte Tessa ihren Bruder. Es schmerzte sie, ihn so zu sehen - mit flehentlicher Hoffnung in den Augen, blauen Blutergüssen im Gesicht, die sich wie unansehnliche Blüten entfalteten, und blutverkrusteten Haaren. Nate war nicht wie andere Menschen, hatte Tante Harriet stets zu sagen gepflegt. Er strahlte eine wundervolle Unschuld aus, die es unter allen Umständen zu bewahren galt.
Und Tessa hatte sich wirklich bemüht, viele Jahre lang. Ihre Tante und sie hatten Nates Charakterschwäche - und auch die Folgen seiner Unzulänglichkeiten und Verfehlungen - immer vor ihm selbst verborgen. Sie hatten ihm nie davon erzählt, welch harte Arbeit Tante Harriet zusätzlich annehmen musste, um das Geld, das er verspielte, wieder hereinzuholen. Oder von den Verhöhnungen, die Tessa erdulden musste, wenn andere Kinder ihren Bruder einen Trunkenbold und Nichtsnutz schimpften. Die beiden Frauen hatten all diese Dinge vor ihm geheim gehalten, um zu
Weitere Kostenlose Bücher