Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
notieren, das uns bei unseren Ermittlungen helfen könnte oder zumindest ein Nachhaken wert ist ...«
Doch Jessamine wich vor den großen bedruckten Blättern zurück, als handelte es sich um eine giftige Schlange. »Eine Dame liest keine Zeitung. Vielleicht die Gesellschaftsspalten oder die Theaternachrichten, aber nicht diesen Schund.«
»Aber du bist keine Dame, Jessamine ...«, setzte Charlotte an.
»Gütiger Himmel! Solch harsche Wahrheiten am frühen Morgen können nicht gut für die Verdauung sein«, warf Will spöttisch ein.
»Ich habe damit gemeint, dass du vor allem eine Schattenjägerin bist und erst dann eine Dame«, berichtigte Charlotte sich.
»Du vielleicht!«, entgegnete Jessamine und schob ruckartig ihren Stuhl zurück. Ihre Wangen hatten eine beunruhigende Röte angenommen. »Ich habe zwar nicht erwartet, dass es dir auffallen würde, aber es liegt wohl auf der Hand, dass Tessa nichts außer diesem schrecklichen alten Fummel zu tragen hat, der ihr noch nicht einmal passt. Nicht einmal mir passt er mehr und sie ist größer als ich.«
»Kann Sophie denn nicht ...«, schlug Charlotte vage vor.
»Man kann ein Kleid enger schneidern, aber es auf die doppelte Größe zu weiten, ist etwas völlig anderes. Also wirklich, Charlotte.« Entrüstet blies Jessamine die Wangen auf. »Ich denke, du solltest mich die arme Tessa in die Stadt begleiten und ihr neue Kleidung kaufen lassen. Denn sonst wird ihr Kleid beim ersten tiefen Atemzug aus allen Nähten platzen und wie ein Blatt von ihr abfallen.«
Will zog eine interessierte Miene. »Ich meine ja, sie sollte es sofort ausprobieren. Dann sehen wir, was passiert.«
»Äh, ich ...«, murmelte Tessa, sichtlich verwirrt. Warum war Jessamine plötzlich so nett zu ihr, nachdem sie sie noch am Abend zuvor so unfreundlich behandelt hatte? »Nein, wirklich, das ist nicht nötig ...«
»Doch, das ist es«, beharrte Jessamine.
Charlotte schüttelte den Kopf. »Jessamine, solange du im Institut lebst, bist du eine von uns und musst deinen Teil dazu beitragen ...«
»Du bist doch diejenige, die darauf bestanden hat, dass wir in Not geratene Schattenweltler aufnehmen und durchfüttern«, schnaubte Jessamine. »Und ich bin mir sicher, das beinhaltet auch, sie zu kleiden. Also trage ich meinen Teil dazu bei - zu Tessas Ausstattung.«
Henry beugte sich über den Tisch zu seiner Frau. »Du solltest sie besser gewähren lassen«, empfahl er. »Oder erinnerst du dich nicht mehr, wie du sie dazu bringen wolltest, die Dolche in der Waffenkammer zu sortieren, und sie sie nur dazu genutzt hat, sämtliche Tischwäsche zu zerschneiden?«
»Wir brauchten neue Tischtücher«, gab Jessamine unbeeindruckt zurück.
»Also gut, von mir aus«, grollte Charlotte. »Also ehrlich, manchmal treibt ihr mich wirklich alle zur Verzweiflung.«
»Was habe ich denn jetzt schon wieder getan?«, hakte Jem nach. »Ich bin doch gerade erst hereingekommen.«
Charlotte stützte das Gesicht in die Hände, und als Henry ihr auf die Schulter klopfte und beruhigende Geräusche von sich gab, beugte Will sich zu Jem hinüber. Dabei ignorierte er Tessa, die zwischen ihnen saß, geflissentlich. »Wollen wir sofort aufbrechen?«
»Lass mich erst noch meinen Tee austrinken«, erklärte Jem. »Außerdem verstehe ich deine Eile nicht: Du hast doch selbst gesagt, dieses Haus würde schon seit einer Ewigkeit nicht mehr als Bordell genutzt?«
»Ich möchte vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein«, erwiderte Will, der nun fast über Tessas Schoß hing. Sie konnte seinen leichten, jugendlichen Duft wahrnehmen, diese Mischung aus Leder und Metall, die an seinen Haaren und seiner Haut zu haften schien. »Ich habe heute Abend noch ein Rendezvous mit einer gewissen Schönheit in Soho.«
»Du meine Güte«, flötete Tessa, an Wills Hinterkopf gerichtet. »Wenn du dich weiterhin mit Sechs-Finger-Nigel triffst, wird er erwarten, dass du dich ihm bald erklärst«, säuselte sie, woraufhin Jem sich fast an seinem Tee verschluckte.
Der Tag in Jessamines Begleitung begann so schrecklich, wie Tessa befürchtet hatte. Der Verkehr war einfach grauenvoll. So überfüllt ihr New York oft erschienen sein mochte - der dortige Verkehr war nichts im Vergleich zu dem tosenden Chaos, das zur Mittagszeit auf dem Strand herrschte: Kutsche auf Kutsche rollte durch die enge Straße und dazwischen drängten sich schwerfällige Handkarren, hoch mit Obst und Gemüse beladen. Frauen unterschiedlichen Alters, in Umhängetücher
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