Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
Schattenjäger nur dazu, die Wahrheit zu sagen.«
Bruder Enoch legte die Klinge des Engelsschwertes mit der flachen Seite auf Jessamines Handflächen; dabei ging er weder brutal noch sanft vor, sondern vollkommen nüchtern, so als würde er das Mädchen gar nicht als Person wahrnehmen. Dann trat er einen Schritt zurück und selbst Jessamine bekam vor Überraschung große Augen - die Klinge schien wie von selbst auf ihren Händen zu balancieren, perfekt im Gleichgewicht und absolut reglos.
»Das Schwert ist kein Folterinstrument, Jessamine«, erläuterte Charlotte, die Hände vor dem Schoß verschränkt. »Wir setzen es nur deshalb ein, weil wir nicht darauf vertrauen können, dass du die Wahrheit sagst.« Erneut hielt sie die Einladung hoch. »Das hier gehört dir, habe ich recht?«
Jessamine schwieg. Sie starrte Bruder Enoch mit weit aufgerissenen, verängstigten Augen an und ihre Brust hob und senkte sich fieberhaft. »Ich kann nicht nachdenken ... jedenfalls nicht, solange dieses Monster hier im Raum ist ...« Ihre Stimme zitterte.
Verärgert presste Charlotte die Lippen zusammen, doch dann wandte sie sich an Enoch und wechselte ein paar Worte mit ihm. Der Bruder der Stille nickte und zog sich geräuschlos aus dem Zimmer zurück. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sagte Charlotte: »So, bitte schön. Bruder Enoch wird draußen im Flur warten. Aber bilde dir nicht ein, er könnte dich nicht schnappen, falls du zu fliehen versuchen solltest, Jessamine.«
Die junge Schattenjägerin nickte. Sie schien sich in ihr Schicksal zu fügen und ließ den Kopf hängen, wie eine gebrochene Spielzeugpuppe.
Charlotte wedelte mit der Karte in ihrer Hand. »Also noch einmal: Diese Einladung gehört dir, stimmt’s? Und du hast sie von Nathaniel Gray erhalten. Es ist seine Handschrift.«
»J...ja.« Es schien, als würde Jessamine das Wort gegen ihren Willen entlockt.
»Seit wann triffst du dich heimlich mit ihm?«
Jessamine presste den Mund fest zusammen, doch dann begann ihre Unterlippe zu zittern und einen Moment später sprudelte eine Flut von Worten aus ihr heraus. Geschockt rasten ihre Augen hin und her, als könnte sie selbst nicht glauben, dass ihr die Worte über die Lippen kamen. »Nur wenige Tage, nachdem Mortmain in das Institut eingedrungen ist, hat Nate mir eine Nachricht zukommen lassen. Darin entschuldigte er sich für sein Verhalten mir gegenüber. Er schrieb, er sei sehr dankbar dafür, dass ich ihn gesund gepflegt habe, und könne meine Güte und Schönheit einfach nicht vergessen. Anfangs wollte ich ... da wollte ich ihn ja ignorieren, aber dann traf ein zweiter Brief ein und ein dritter ... und schließlich willigte ich ein, mich mit ihm zu treffen. Ich schlich mich zu mitternächtlicher Stunde aus dem Institut und wir trafen uns im Hyde Park. Er küsste mich und ...«
»Das reicht«, sagte Charlotte. »Wie lange hat es gedauert, bis er dich davon überzeugte, uns in seinem Auftrag zu bespitzeln?«
»Er meinte, er wolle nur so lange für Mortmain arbeiten, bis er genügend Geld für ein annehmbares Leben beiseitegelegt habe. Als ich ihm vorschlug, wir könnten doch von meinem Vermögen leben, wollte er nichts davon hören. Er bestand darauf, sein eigenes Geld zu verdienen, denn er wolle nicht auf Kosten seiner Frau leben, wie er sagte. Ist das nicht nobel?«
»Dann hatte er zu diesem Zeitpunkt also bereits um deine Hand angehalten?«
»Schon bei unserem zweiten Treffen hat Nate mir einen Heiratsantrag gemacht«, hauchte Jessamine. »Er sagte, er wisse genau, dass es für ihn keine andere Frau mehr geben werde. Und wenn er erst einmal genügend Geld beiseitegelegt habe, würde er mir genau das Leben bieten können, das ich mir immer gewünscht habe, und wir würden nie wieder finanzielle Sorgen haben. Und ... und er sprach sogar von K...kindern.«
Sie schniefte.
»Ach, Jessamine.« Charlotte klang beinahe traurig.
Das Mädchen errötete. »Aber es ist wahr! Er liebt mich! Und er hat es bewiesen: Wir sind vermählt! Die Hochzeit fand, wie es sich gehört, in einer Kirche statt, mit einem Priester ...«
»Wahrscheinlich handelte es sich um eine säkularisierte Kirche und irgendeinen Lakaien, der sich als Geistlicher verkleidet hatte«, erwiderte Charlotte. »Denn was verstehst du schon von den Hochzeitszeremonien der Irdischen, Jessie? Woher willst du wissen, wie eine richtige Eheschließung aussieht? Ich gebe dir mein Wort darauf, dass Nathaniel Gray dich nicht als seine rechtmäßige
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