Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
gelegentlich erhielten sie Post von seinem dortigen Unternehmen, alle Briefumschläge mit höchst eigenartigen Briefmarken frankiert. Aber meines Wissens ist das Institut in Shanghai der Auffassung, dass Mortmain nicht in der Stadt weilt.
Ich habe Miss Herondale erzählt, dass ihr Bruder sie vermisst; es schien mir als das Wenigste, was ich tun konnte. Diese Auskunft stimmte sie allem Anschein nach zufrieden. Ich denke, ich werde noch ein Weilchen hier in der Gegend bleiben; es interessiert mich inzwischen selbst herauszufinden, auf welche Weise das Schicksal der Familie Herondale mit Mortmains Plänen verknüpft ist. Offenbar ruhen noch einige ungelöste Rätsel unter den friedlichen grünen Hügeln Yorkshires - und ich bin fest entschlossen, sie zu lösen.
Ragnor Fell
Charlotte las den Brief zweimal, um sich alle Einzelheiten einzuprägen, dann faltete sie den Bogen mehrfach und warf ihn in das Feuer, das im Kamin des Salons brannte. Müde stand sie da, lehnte sich an den Kaminsims und beobachtete, wie die Flammen das Papier in goldenen und schwarzen Linien verzehrten.
Sie war sich nicht sicher, ob sie über den Inhalt des Schreibens überrascht oder beunruhigt sein sollte oder einfach nur unendlich müde. Mortmain zu suchen, war, wie nach einer Spinne zu schlagen, nur um dann festzustellen, dass man sich rettungslos in den klebrigen Fäden ihres Netzes verstrickt hatte. Und was Will betraf ... Charlotte hasste den Gedanken, mit ihm über diese ganze Angelegenheit sprechen zu müssen. Blind starrte sie in die Flammen. Manchmal hegte sie den Verdacht, der Erzengel hatte Will nur deshalb zu ihr geschickt, um ihre Geduld auf die Probe zu stellen. Der Junge war verbittert, besaß eine scharfe Zunge, die wie ein Peitschenhieb treffen konnte, und er reagierte auf jeden ihrer Versuche, ihm Liebe und Zuneigung entgegenzubringen, mit beißendem Spott oder Verachtung. Und dennoch: Wenn sie ihn betrachtete, sah sie immer noch den kleinen Zwölfjährigen, zusammengekauert in einer Ecke seines Zimmers, die Hände auf die Ohren gepresst, während seine Eltern auf den Stufen des Instituts standen, seinen Namen riefen und ihn anflehten, herunterzukommen und mit ihnen nach Hause zurückzukehren.
Nachdem die Herondales schließlich aufgegeben hatten und gegangen waren, hatte Charlotte sich neben ihn gekniet. Und sie erinnerte sich noch daran, wie er das kleine Gesichtchen gehoben und sie angesehen hatte - mit bleicher, angespannter Miene und diesen blauen Augen unter dunklen Wimpern. Damals war er so hübsch wie ein Mädchen gewesen, dünn und feingliedrig, bis er sich mit solch eiserner Beharrlichkeit auf das Schattenjägertraining konzentriert hatte, dass seine einst zierliche Gestalt innerhalb von zwei Jahren von harten Muskelsträngen, Narben und Runenmalen verdrängt worden war. Als sie gemeinsam in seinem Zimmer saßen, hatte Charlotte seine Hand genommen, die er in ihrer Handfläche hatte ruhen lassen wie ein lebloses, totes Ding. Er hatte sich wohl auf die Unterlippe gebissen, offenbar aber nichts davon bemerkt, denn das Blut rann an seinem Kinn herab und tropfte auf sein Hemd. Charlotte, du wirst es mir sagen, nicht wahr? Du wirst es mir sagen, wenn ihnen irgendetwas zustößt?
Will, ich kann nicht ...
Ich kenne das Gesetz. Aber ich möchte einfach nur wissen, ob sie noch am Leben sind. Seine Augen hatten sie angefleht. Charlotte, bitte ...
»Charlotte?«
Ruckartig schaute Charlotte vom Feuer auf. Jem stand im Türrahmen. Noch halb in Erinnerungen versunken, starrte sie ihn einen Moment verwundert an. Als Jem aus Shanghai zum Londoner Institut gekommen war, hatten seine Haare und Augen so schwarz wie Tusche geschimmert. Doch im Laufe der Jahre hatten sie einen silbernen Ton angenommen - wie Kupfer, das durch Kontakt mit Sauerstoff Grünspan ansetzt -, während sich das Rauschmittel durch seinen Körper fraß, ihn veränderte und langsam umbrachte. »James«, sagte Charlotte. »Es ist schon spät, nicht wahr?«
»Gleich elf.« Jem neigte den Kopf zur Seite und musterte sie. »Ist alles in Ordnung? Du wirkst so bekümmert.«
»Nein, ich ...« Charlotte machte eine vage Handbewegung. »Diese ganze Geschichte mit Mortmain geht mir einfach nicht aus dem Kopf.«
»Ich hätte da mal eine Frage«, setzte Jem an, trat näher an den Kamin und senkte die Stimme. »Eine Frage, die nicht gänzlich aus dem Kontext fällt. Gabriel hat heute eine Bemerkung gemacht, während des Trainings ...«
»Du warst dort?«
Jem
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