Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
schüttelte den Kopf. »Sophie hat mir später davon berichtet. Normalerweise erzählt sie nicht gern irgendwelche Geschichten herum, aber sie war aufgewühlt - was ich ihr nicht verübeln kann. Gabriel hat behauptet, sein Onkel habe Selbstmord begangen und seine Mutter sei vor Gram gestorben, weil ... nun ja, wegen deines Vaters.«
»Wegen meines Vaters?«, fragte Charlotte verständnislos.
»Offenbar hat Gabriels Onkel Silas einen Gesetzesverstoß begangen und dein Vater hat die Sache entdeckt. Daraufhin soll dein Vater zum Rat marschiert sein, infolgedessen sich der Onkel aus Scham das Leben nahm und Mrs Lightwood vor Kummer starb. Gabriel meinte wörtlich: ›Die Fairchilds interessieren sich für nichts und niemanden, außer für sich selbst und das Gesetz!‹«
»Und du erzählst mir das alles, weil ...?«
»Weil ich mich frage, ob die Geschichte stimmt«, erklärte Jem. »Und falls ja, wäre es möglicherweise sinnvoll, den Konsul darüber zu informieren, dass Benedict das Institut aus persönlichen Gründen, aus Rache, an sich reißen will und nicht aus dem selbstlosen Wunsch heraus, es unter einer besseren Leitung zu sehen.«
»Aber die Geschichte entspricht nicht der Wahrheit. Sie kann gar nicht stimmen.« Charlotte schüttelte den Kopf. »Silas Lightwood hat sich umgebracht, weil er sich in seinen Parabatai verliebt hatte - und nicht, weil mein Vater sich an den Rat gewendet hatte. Der Rat erfuhr erst aus dem Abschiedsbrief, den Silas hinterließ, von dem ganzen Vorfall. Tatsächlich hat sein Vater meinen Vater sogar gebeten, ihm beim Verfassen von Silas’ Grabrede zu helfen. Klingt das für dich nach einem Mann, der meinem Vater die Schuld am Tod seines Sohnes gab?«
Jems Augen verdüsterten sich. »Das ist ja interessant.«
»Meinst du, Gabriel ist einfach nur gehässig? Oder glaubst du, sein Vater hat ihn vielleicht angelogen, um ...«, setzte Charlotte an, konnte ihre Frage aber nicht beenden.
Denn plötzlich krümmte Jem sich zusammen, als hätte er einen Schlag in den Magen erhalten. Er erlitt einen solch heftigen Hustenanfall, dass seine schmächtigen Schultern bebten. Hellrote Blutspritzer verteilten sich auf seinem Ärmel, als er den Arm vors Gesicht riss.
»Jem ...« Charlotte eilte besorgt auf ihn zu.
Doch Jem rappelte sich auf und taumelte von ihr fort, eine Hand abwehrend ausgestreckt, als wollte er Charlotte von sich fernhalten. »Alles in Ordnung«, keuchte er. »Mir geht es gut.« Dann wischte er sich mit dem Ärmel das Blut aus dem Gesicht. »Bitte, Charlotte«, fügte er mit resignierter Stimme hinzu, als sie dennoch auf ihn zukam. »Bitte nicht.«
Abrupt hielt Charlotte inne, obwohl ihr das Herz blutete. »Gibt es denn nichts, was ich tun könnte ...«
»Du weißt, dass es nichts gibt.« Jem senkte den Arm, auf dem das Blut hell leuchtete, und schenkte ihr ein liebevolles Lächeln. »Meine liebe Charlotte«, sagte er. »Du warst für mich immer wie eine ältere Schwester ... die beste ältere Schwester, die ich mir nur wünschen konnte. Das weißt du doch, oder?«
Charlotte schaute ihn nur mit großen Augen an. Seine Worte klangen derartig nach einem Abschied, dass sie keine Antwort über die Lippen bringen konnte. Jem machte auf dem Absatz kehrt und verließ leise den Salon. Stumm sah Charlotte ihm nach und versuchte, sich einzureden, dass seine Worte nichts zu bedeuten hatten, dass es ihm nicht schlechter ging als zuvor, dass er noch immer viel Zeit hatte. Sie liebte Jem, genau wie sie Will liebte - und im Grunde alle, die ihr anvertraut waren -, und der Gedanke, den Jungen zu verlieren, brach ihr fast das Herz. Nicht nur aufgrund des Verlustes, den sie dadurch erleiden würde; sie dachte dabei auch an Will. Denn sie konnte regelrecht fühlen, dass Jem bei seinem Tod alles, was an Will noch menschlich war, mit sich ins Grab nehmen würde.
Es war bereits kurz vor Mitternacht, als Will ins Institut zurückkehrte. In der Threadneedle Street hatte eisiger Regen eingesetzt, woraufhin Will sich unter der Markise des Verlagshauses »Dean and Son Publishers« untergestellt hatte, um seinen Mantel zuzuknöpfen und den Schal festzuziehen. Doch der Regen war ihm bereits über das Gesicht gelaufen - dicke, kalte Tropfen, die nach Kohle und salzigem Schlick schmeckten. In gebückter Haltung wagte er sich aus dem Schutz der Markise und eilte dann am Gebäude der »Bank of England« vorbei, in Richtung des Instituts.
Trotz der vielen Jahre, die er nun schon in London lebte, erinnerte
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