Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
»Hoffnungslosigkeit?«
Ruhig erklärte er: »Für Sydney gibt es keine Zukunft, ob mit oder ohne Liebe. Er weiß, dass er ohne Lucie nicht existieren kann, aber sie in seine Nähe zu lassen, würde bedeuten, sie zu entwürdigen.«
Doch Tessa schüttelte den Kopf. »Das habe ich ganz anders in Erinnerung. Das Opfer, das er bringt, ist edelmütig ...«
»Es ist alles, was ihm noch geblieben ist«, erwiderte Will. »Weißt du denn nicht mehr, was er zu Lucie sagt? ›Wenn es möglich gewesen wäre, dass Sie die Liebe des Mannes hätten erwidern können, den Sie vor sich sehen - eines armseligen, missbrauchten, dem Trunk ergebenen Geschöpfs, wie Sie es vor sich sehen -, so würde er doch selbst am Tag und in der Stunde seines Glücks sich bewusst geblieben sein, dass er nur Elend, Leid und Reue über Sie bringen könnte - dass er Sie entehren und mit sich in den Staub ziehen würde ...‹ [5] «
Ein glühendes Holzscheit verrutschte im Kaminfeuer und sandte einen Funkenregen in die Höhe. Beide fuhren erschrocken zusammen und Will verstummte.
Tessas Herz machte einen Satz und sie zwang sich, den Blick von Will abzuwenden. Dumm, schimpfte sie aufgebracht mit sich selbst, ich bin ja so dumm. Einerseits erinnerte sie sich noch ganz genau, wie er sie behandelt und mit welchen Worten er sie bedacht hatte, andererseits ließ sie zu, dass ihre Knie beim Hören einer Zeile von Dickens weich wie Pudding wurden. »Nun, Sie haben sich diesen Teil der Erzählung in der Tat richtig eingeprägt«, sagte sie. »Sehr beeindruckend.«
Will zog seinen Hemdkragen beiseite, wodurch sein elegant geschwungenes Schlüsselbein vollständig zum Vorschein kam. Doch es dauerte einen Moment, bis Tessa erkannte, dass er ihr ein Runenmal zeigen wollte, welches sich wenige Zentimeter über seinem Herzen befand. »Mnemosyne - die Rune der Gedächtniskunst«, erläuterte er. »Eines der permanenten Male.«
Hastig schaute Tessa weg. »Es ist schon spät. Höchste Zeit, mich zurückzuziehen - ich bin sehr müde.« Mit erhobenem Kopf rauschte sie an ihm vorbei in Richtung Tür. Dabei fragte sie sich einen Moment lang, ob es sein konnte, dass er tatsächlich verletzt wirkte. Doch dann schob sie den Gedanken resolut beiseite. Schließlich hatte sie es hier mit Will zu tun: So sprunghaft und flüchtig seine Launen auch sein mochten, so charmant er auch sein konnte, wenn er sich in guter Stimmung fühlte - er war Gift für sie ... für sie und für alle anderen.
»Vathek«, sagte er in diesem Augenblick und rutschte vom Tisch herunter.
Abrupt blieb Tessa mitten in der Tür stehen und bemerkte, dass sie den Coleridge-Gedichtband noch immer in der Hand hielt. Doch dann beschloss sie, dass sie das Buch genauso gut mit auf ihr Zimmer nehmen konnte; es würde eine angenehme Abwechslung zum Codex bieten. »Wie bitte?«, fragte sie.
»Vathek«, sagte Will erneut, »von William Beckford. Falls du also an Otranto Gefallen gefunden hast ...«
Das hab ich doch gar nicht zugegeben, schoss es Tessa durch den Kopf.
»... denke ich, wird dir Vathek ebenfalls Zusagen.«
»Oh«, murmelte Tessa. »Gut. Danke. Ich werde darauf zurückkommen.«
Will schwieg. Er stand noch immer dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte, in der Nähe des Tischs. Da er den Kopf gesenkt hatte, verdeckten die dunklen Haare sein Gesicht.
Der Anblick ließ Tessas Herz ein wenig auftauen, und ehe sie sich zurückhalten konnte, meinte sie: »Gute Nacht, Will.«
Sofort schaute er auf. »Gute Nacht, Tessa.« Erneut schwang ein Hauch von Wehmut in seiner Stimme mit, aber er klang nicht mehr so trostlos wie zuvor. Gedankenverloren streckte er die Hand aus, um Church zu streicheln, der das gesamte Gespräch und sogar das Herabfallen des Holzscheits im Kamin verschlafen hatte. Noch immer lag er entspannt auf dem Lesepult, die Pfoten in die Luft gereckt.
»Will ...«, setzte Tessa an, doch es war bereits zu spät. Rüde aus dem Schlaf gerissen, stieß Church ein wütendes Miauen aus und schlug mit seinen Krallen nach Will, der daraufhin unterdrückt zu fluchen begann. Als Tessa die Tür leise hinter sich ins Schloss zog, konnte sie das feine Lächeln, das ihre Lippen umspielte, einfach nicht länger unterdrücken.
4
EINE REISE
Freundschaft ist eine Seele
in zwei Körpern.
MENZIUS
Mit einem wütenden Schnauben knallte Charlotte den Brief auf den Schreibtisch. »Aloysius Starkweather ist der starrköpfigste, scheinheiligste, eigensinnigste, verkommenste ...« Sie verstummte und rang sichtlich
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