Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
Haltung?«
Schweigend nahm Tessa das Buch entgegen. »Falls du die Bibliothek zu nutzen wünschst«, setzte sie an und machte Anstalten zu gehen, »lass dich bitte nicht stören. Ich habe gefunden, wonach ich suchte, und da es bereits ziemlich spät ist ...«
»Tessa«, stieß Will hervor und hielt eine Hand hoch, um sie aufzuhalten.
Finster musterte Tessa den jungen Schattenjäger und wünschte, sie könnte ihn auffordern, sie wieder mit »Miss Gray« anzureden. Denn allein die Art und Weise, wie er ihren Namen gesagt hatte, brach ihr fast das Herz, löste einen harten Knoten tief in ihrem Brustkorb und raubte ihr förmlich den Atem. Sie wünschte, er würde sie nicht bei ihrem Vornamen nennen, wusste aber andererseits, wie lächerlich eine derartige Aufforderung klingen musste. Das hätte all ihre Bemühungen zunichtegemacht, ihm gegenüber eine kühle Gleichgültigkeit an den Tag zu legen. »Ja?«, fragte sie.
Ein leicht wehmütiger Ausdruck zeichnete sich auf Wills Gesicht ab, während er sie betrachtete. Es kostete Tessa größte Mühe, ihn nicht anzustarren. Will und wehmütig? Das konnte nur vorgetäuscht sein.
»Ach, nichts. Ich ...« Er schüttelte den Kopf; eine dunkle Strähne fiel ihm in die Stirn und er strich die Haare ungeduldig beiseite. »Es ist nichts«, sagte er erneut, fügte dann aber hinzu: »Als ich dir die Bibliothek zum ersten Mal gezeigt habe, da hast du mir gesagt, Die weite, weite Welt sei dein Lieblingsbuch. Ich dachte, es würde dich vielleicht interessieren, dass ich ... dass ich es daraufhin gelesen habe.« Er hielt den Kopf leicht gesenkt und blickte sie mit seinen blauen Augen unter dichten dunklen Wimpern an.
Tessa fragte sich, wie oft er wohl schon mit dieser lausbübischen Art Erfolg gehabt haben mochte, und zwang sich zu einem höflich-kühlen Ton: »Und, hat es dir gefallen?«
»Nicht im Geringsten«, erwiderte Will. »Zu weitschweifig und gefühlsduselig, wenn du mich fragst.«
»Nun ja, über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten«, säuselte Tessa honigsüß, wohl wissend, dass er sie in Rage zu bringen versuchte. Aber sie dachte gar nicht daran, den Köder zu schlucken. »Des einen Freud ist des anderen Leid, findest du nicht auch?« Bildete sie sich das ein oder schaute er tatsächlich enttäuscht?
»Könntest du mir vielleicht ein anderes Buch von einem amerikanischen Schriftsteller empfehlen?«
»Warum sollten Sie das wollen, wo Sie meinen Geschmack doch so gering schätzen? Ich denke, Sie werden akzeptieren müssen, dass wir in Bezug auf unsere Lektüre recht verschieden sind - genau wie in vielerlei anderer Hinsicht. Und in Zukunft sollten Sie jemand anderes um Empfehlungen ersuchen, Mr Herondale.« Kaum waren ihr die Worte über die Lippen gekommen, biss Tessa sich auch schon auf die Zunge. Jetzt hatte sie übertrieben, das wusste sie genau.
Und tatsächlich stürzte Will sich darauf - wie eine Spinne auf eine besonders schmackhafte Fliege. »Mr Herondale?«, fragte er in forderndem Ton. »Tessa, ich dachte ...?«
»Ja bitte?«, konterte Tessa in eisigem Ton.
»Dass wir uns zumindest noch über Bücher unterhalten könnten.«
»Das haben wir. Und Sie haben meinen Geschmack beleidigt«, erwiderte Tessa. »Außerdem sollten Sie wissen, dass Die weite, weite Welt keineswegs mein Lieblingsbuch ist. Es handelt sich lediglich um eine Erzählung, deren Lektüre ich genossen habe, genau wie Capitola - Die verborgene Hand oder ... Wissen Sie, was, vielleicht sollten Sie mir ja ein Buch empfehlen, damit ich Ihren Geschmack beurteilen kann. Alles andere wäre kaum als fair zu bezeichnen.«
Will hockte sich auf den nächsten Tisch, ließ die Beine baumeln und schien darüber nachzudenken. »Die Burg von Otranto ...«
»Ist das nicht dieser Schauerroman, in dem der Sohn des Helden von einem Riesenhelm erschlagen wird, der vom Himmel herabfällt? Und da behaupten Sie, Eine Geschichte aus zwei Städten wäre albern!«, empörte sich Tessa, die eher gestorben wäre, als zuzugeben, dass sie Otranto gelesen und sehr gemocht hatte.
»Eine Geschichte aus zwei Städten«, wiederholte Will. »Ich habe diese Erzählung noch einmal gelesen ... weil wir darüber gesprochen hatten. Ich muss dir recht geben. Sie ist überhaupt nicht albern.«
»Ach nein?«
»Nein«, sagte er, »dazu spricht zu viel Hoffnungslosigkeit aus ihr.«
Tessas Blick traf sich mit Wills: Seine Augen schimmerten so blau wie ein See und sie hatte das Gefühl, in ihnen zu versinken.
Weitere Kostenlose Bücher