Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
einen Teller mit kaltem Hühnchen herrichten kann. Und was euch drei anbelangt ...« Er hielt einen Moment inne, als wollte er ihnen eine Anweisung geben - sie womöglich zu Bett schicken oder zurück in die Bibliothek, um weitere Nachforschungen anzustellen. Doch der Augenblick verstrich und ein verwirrter Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Verflixt, ich kann mich wahrhaftig nicht mehr erinnern, was ich gerade sagen wollte«, verkündete er und verschwand kopfschüttelnd in Richtung Küche.
Kaum dass Henry das Zimmer verlassen hatte, vertieften Will und Jem sich in ein ernsthaftes Gespräch über Reparationsleistungen, Schattenweltler, Abkommen, Bündnisverträge und Gesetze. Das sorgte dafür, dass sich Tessa der Kopf drehte. Leise stand sie auf, verließ das Speisezimmer und begab sich in die Bibliothek. Trotz seiner enormen Größe und der Tatsache, dass nur wenige der Bücher in den deckenhohen Regalen in englischer Sprache verfasst waren, zählte dieser Raum zu Tessas Lieblingsplätzen im gesamten Institut. Irgendwie hatte er etwas Besonderes an sich - mit seinem Geruch nach alten Büchern, einer Mischung aus Tinte, Papier und Leder. Sogar der Staub schien sich in der Bibliothek anders zu verhalten als in anderen Räumen: Tanzende Staubpartikel schimmerten golden im Schein der Elbenlichtkerzen und setzten sich wie Blütenpollen auf den polierten Oberflächen der langen Holztische ab.
Auf einem der hohen Lesepulte lag Church und schlief, den Schwanz um den Kopf gekringelt. Tessa machte einen weiten Bogen um den Kater, während sie auf die kleine Sammlung von Gedichtbänden an der rechten Wand zusteuerte. Church mochte Jem zwar anbeten, war aber dafür bekannt, dass er alle anderen gern mal biss, noch dazu häufig ohne jede Vorwarnung.
Nach einem Moment fand Tessa den Band, den sie gesucht hatte, kniete sich vor das Bücherregal und blätterte die Seiten durch, bis sie die richtige Stelle im Gedicht Christabel gefunden hatte: die Szene, in der der alte Baron erkennt, dass das junge Mädchen vor ihm die Tochter des Mannes ist, der einst sein Freund war und nun sein zutiefst verhasster Feind - der Mann, den er niemals vergessen kann.
Ach! Freunde war’n sie in der Jugendzeit,
Doch Missgunst trübt die Ehrlichkeit
Und Treue weilt in himmlischen Sphären.
Das Leben ist dornig, die Jugend ist flüchtig
Und dem zu zürnen, den man liebt in Ehren,
Treibt in den Wahn, macht alles unwichtig.
[...]
Beide sprachen voll tiefer Verachtung,
Zu kränken das Herz des liebsten Freund’:
Im Streit sie schieden - war’n nie mehr vereint!
Die Stimme, die über Tessas Kopf ertönte, klang leicht und schleppend zugleich - und war unverkennbar: »Überprüfst du, ob ich auch sorgfältig zitiert habe?«
Tessa zuckte derart erschrocken zusammen, dass ihr das Buch aus der Hand rutschte und auf dem Boden aufschlug. Sie fuhr hoch und sah erstarrt zu, wie Will sich bückte, den Gedichtband aufhob und ihr entgegenhielt, in einer Geste ausgesuchter Höflichkeit.
»Ich versichere dir, mein Erinnerungsvermögen ist tadellos«, verkündete er.
Genau wie das meine, dachte Tessa. Seit Wochen war dies das erste Mal, dass sie sich mit ihm allein in einem Raum befand ... seit jener schrecklichen Begebenheit auf dem Dach, als er ihr zu verstehen gegeben hatte, dass er sie für kaum mehr als eine Dirne hielt und noch dazu für unfruchtbar. Beide hatten über diesen Vorfall kein Wort mehr verloren. Stattdessen hatten sie so getan, als wäre alles in bester Ordnung: ein höflicher Umgang in Gesellschaft anderer, doch keine Sekunde allein zu zweit. Irgendwie war es Tessa in Gegenwart von Dritten gelungen, den Vorfall aus ihren Gedanken zu verdrängen, das Ganze einen Moment zu vergessen. Doch nun, da sie Will von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand - er so wunderschön wie immer, mit geöffnetem Hemdkragen, unter dem die schwarzen Runenmale auf seinem Schlüsselbein und der weißen Haut seines Halses deutlich zum Vorschein kamen, während das flackernde Elbenlicht sich in den eleganten Flächen und kantigen Konturen seines Gesichts spiegelte -, stieg die Erinnerung an ihre Beschämung heiß in ihrer Kehle auf. Vor Wut darüber brachte sie keinen Ton heraus.
Will warf einen Blick auf seine Hand, die noch immer den schmalen, in grünes Leder gebundenen Gedichtband hielt. »Hast du vor, Coleridges Werk wieder an dich zu nehmen, oder soll ich hier bis in alle Ewigkeit stehen, in dieser ziemlich lächerlichen
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