Chroniken der Schattenkrieger (German Edition)
verließen die beiden Gestalten den Raum, um ihren Auftrag auszuführen. Niemand schaute ihnen hinterher.
Plötzlich wandte sich der Anführer wieder Anthony zu und blickte tief in seine schwarzen Augen. Keiner seiner Gefährten hatte den Mut, auch nur ein Wort zu sagen.
„Du bist mir ein Dorn im Auge, ist dir das bewusst?“, fuhr der Boss den jungen Mann erneut an. Der Boss war bekannt für seine plötzlich schwankende Stimmung, die von einem Moment auf den anderen von euphorisch gelaunt in hasserfüllt wechseln konnte. Keiner konnte sich dieses Verhalten erklären, und keiner traute sich, dies jemals zu versuchen. Anthony senkte wie immer den Blick zu Boden und richtete seine volle Aufmerksamkeit auf den Absatz seiner Schuhe. Das beruhigte ihn oft und ließ ihn die vielen Gemeinheiten, die ihm entgegengebracht wurden, innerlich ausblenden. „Doch bin ich fest davon überzeugt, dass jeder, aber auch wirklich jeder, eine zweite Chance verdient. Ist es nicht so, meine Gefährten?“ Logan warf triumphierend die Hände in die Höhe und blickte jeden im Raum nacheinander an. Niemand wurde von seinem Blick verschont.
Alle nickten und stimmten dem Gedanken ihres Anführers zu. Eine Gegenmeinung wurde niemals geduldet.
„Dir wird eine besonders verantwortungsvolle Aufgabe zuteil“, begann der Boss seine Ausführungen und schaute Anthony durchdringend an. „Da du ja nun als die ‚feine Dichterseele‘ abgestempelt bist, wirst du dich der Prinzessin vorsichtig nähern und mit der Zeit ihr Vertrauen gewinnen. Sie soll sich in deiner Nähe wohlfühlen und sich dir öffnen. Hast du dies erst geschafft, wirst du sie manipulieren und dann endlich in eine Falle locken können. Dafür, dass die Falle zuschnappt, werde ich sorgen.“
Oberflächlich betrachtet, kam Anthony der Vorschlag mehr als entgegen. Von Anfang an hatte er sich zu dem Mädchen hingezogen gefühlt, doch durfte er es nicht zeigen. Sydney war sehr hübsch, und das hatte er bereits beim ersten flüchtigen Anblick gemerkt. Er hatte sich nicht in ihren Kursus eingeschrieben, weil es ihm taktische Vorteile brachte, um das lang ersehnte Ziel der Gruppe zu erreichen. Nein, er wollte nur bei ihr sein und sie sehen, so oft es nur ging.
Diese Gedanken behielt er für sich. Nicht mal sein Freund Jeremy ahnte etwas davon, was sich in seinem Inneren abspielte. Diesen Teil seiner Gedanken blendete er gezielt aus, wenn es um die Fähigkeit ging, wortlos miteinander zu kommunizieren. Das, was er empfand, war gefährlich – für Sydney und vor allem für ihn selbst. Seine Gedanken bedeuteten Verrat. Verrat an seiner Aufgabe, seiner Bestimmung und seinem Volk.
Anthony hob den Kopf und schaute seinem verhassten Anführer ins Antlitz.
„Ich werde dich nicht enttäuschen“, antwortete er selbstbewusst, jedoch mit viel Herzschmerz.
Kapitel 11 – Das Gedicht des Neulings
Portland (US-Bundesstaat Maine). Das Jahr 2010. Sommer.
Das kleine Städtchen war in Aufruhr. Jeder freute sich bereits auf die anstehende Festlichkeit. Die Feier war nicht nur das Thema Nummer eins in den örtlichen Zeitungen, sondern auch bei den Gesprächen auf den Straßen, in den Cafés, in denen Kinos und natürlich auch auf der Jonathan High.
Hatte Sydney früher gedacht, dass die Vorbereitungen für das Erntedankfest, für Halloween oder für Weihnachten aufwendig wären, so irrte sie sich. Das Fest des St. Lukas sorgte bei den Bewohnern des wohl eher unscheinbaren Städtchens für noch mehr Aufregung als irgendeine andere Feier.
Die Aufregung der anderen konnte Sydney nicht nachvollziehen. Für sie stellte dieses Fest keine Besonderheit dar, sondern war einfach eines, an dem man teilnehmen konnte oder auch nicht, wenn man nicht wollte. Doch sie merkte, dass sie von der fieberhaften Aufregung ihrer Mitschüler und ihrer neuen Schwester von Tag zu Tag mehr angesteckt wurde. Auch sie verspürte eine gewisse Vorfreude.
Es war wieder Mittwoch, und bis Samstag musste sie nicht mehr lange warten. Dann konnte sie endlich mit eigenen Augen sehen, was an der Sankt-Lukas-Feier so besonders war.
Die anfängliche Schwärmerei für Anthony verflog nicht nach wenigen Tagen, wie Sydney anfangs vermutet hatte, sondern dauerte unermüdlich an. Im Gegenteil, das warme Gefühl in ihrem Inneren wurde mit jedem Tag stärker, und jedes Mal, wenn sie den kräftigen jungen Mann zu Gesicht bekam, setzte ihr Herzschlag für den Bruchteil eines Augenblickes aus, um danach noch heftiger zu schlagen.
Die nicht
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