Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
sie die Blätter von ihrem Gesicht, ihren Augen wegfegen wollte.
So plötzlich, wie der Wind aufgekommen war, so schnell legte er sich auch wieder. Dann stand Raphael vor ihnen, nur wenige Meter von Simon entfernt. Hinter ihm sah er eine ganze Gruppe von Vampiren, bleich und regungslos wie Bäume im Mondlicht. Sie musterten ihn kalt; in ihren Augen lag nichts als offene Feindseligkeit. Einige von ihnen kannte Simon noch aus dem Hotel Dumort: die zierliche Lily und den blonden Jacob, dessen Augen zu Schlitzen zusammengekniffen waren. Doch viele von ihnen hatte er noch nie zuvor gesehen.
Schließlich machte Raphael einen Schritt auf sie zu. Seine Haut wirkte fahlgelb und er hatte schwarze Ringe unter den Augen, doch er lächelte Simon an.
»Tageslichtler«, sagte er knapp. »Du bist gekommen.«
»Ja, ich bin gekommen«, erwiderte Simon. »Ich bin hier, also … ist alles geklärt.«
»Es ist längst nicht alles geklärt, Tageslichtler«, entgegnete Raphael und schaute dann zu Maia: »Lykanthrop, kehr zumAnführer deines Rudels zurück und danke ihm dafür, dass er seine Meinung geändert hat. Sag ihm, dass die Kinder der Nacht in der Brocelind-Ebene neben ihm und seinesgleichen kämpfen werden.«
Maias Gesicht war angespannt. »Luke hat seine Meinung nicht…«
Doch Simon unterbrach sie hastig: »Alles in Ordnung, Maia. Geh jetzt.«
»Simon, überleg dir das gut«, warf Maia ein und musterte ihn aus leuchtenden, traurigen Augen. »Du musst das nicht tun.«
»Doch, ich muss«, erklärte er mit fester Stimme. »Vielen Dank, Maia, dass du mich hierhergebracht hast. Und jetzt geh.«
»Simon …«
»Wenn du jetzt nicht gehst«, sagte er leise, »töten sie uns beide, und das alles hier wäre vollkommen umsonst gewesen. Geh jetzt. Bitte.«
Maia nickte. Dann wandte sie sich von ihm ab und begann im selben Moment, sich zu verwandeln - wo eben noch ein junges Mädchen gestanden hatte, mit geflochtenen Perlenzöpfen, die auf ihren Schultern auf und ab hüpften, kauerte im nächsten Augenblick ein flinker, kraftvoller Wolf, der sich lautlos in Bewegung setzte, auf allen vier Pfoten quer über die Lichtung huschte und in den Schatten verschwand.
Simon drehte sich wieder zu den Vampiren um - und hätte fast laut aufgeschrien, da Raphael plötzlich direkt vor ihm stand, nur Zentimeter entfernt. Unter seiner bleichen Haut schimmerte das vielsagende dunkle Adergeflecht, das seinen Hunger verriet. Unwillkürlich musste Simon an die Nacht imHotel Dumort zurückdenken - Gesichter, die aus den Schatten auftauchten, flüchtiges Gelächter, der Geruch von Blut - und er erschauderte.
Im nächsten Moment packte Raphael Simon an den Schultern; der Griff seiner trügerisch schmächtigen Hände fühlte sich an wie der von Eisenklauen. »Dreh den Kopf«, knurrte er, »und schau hinauf zu den Sternen. Das wird es leichter machen.«
»Dann willst du mich also tatsächlich töten«, sagte Simon und stellte überrascht fest, dass er bei dem Gedanken weder Angst noch Anspannung verspürte. Alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen - ein Augenblick perfekter Klarheit. Er nahm jedes Blatt an den Zweigen über ihm wahr, sah jeden winzigen Kiesel auf dem Boden, spürte sämtliche Augenpaare, die auf ihn gerichtet waren.
»Was hast du denn gedacht?«, erwiderte Raphael - ein wenig traurig, überlegte Simon. »Es ist nichts Persönliches, das musst du mir glauben. Aber wie ich schon sagte, du bist zu gefährlich, um einfach so weiterleben zu dürfen. Wenn ich gewusst hätte, was aus dir werden würde …«
»Hättest du mich niemals aus diesem Grab klettern lassen - ich weiß«, ergänzte Simon.
Raphael schaute ihn an. »Wir alle tun, was wir tun müssen, um zu überleben. In dieser Hinsicht gleichen selbst wir den Menschen.« Seine nadelspitzen Zähne glitten wie kleine Rasiermesser aus ihren Scheiden. »Halt still«, sagte er, »dann geht es ganz schnell.« Mit diesen Worten beugte er sich vor.
»Warte!«, rief Simon, und als Raphael mit einem finsteren Gesichtsausdruck innehielt, wiederholte er mit mehr Nachdruck: »Warte. Es gibt noch etwas, das ich dir zeigen muss.«
Raphael stieß ein tiefes Fauchen aus. »Du musst dir schon etwas Besseres einfallen lassen, um mich aufzuhalten, Tageslichtler.«
»Keine Sorge. Es gibt wirklich etwas, das du meiner Meinung nach unbedingt sehen solltest«, erklärte Simon, fasste sich an die Stirn und strich sein Haar zurück. Diese Geste
Weitere Kostenlose Bücher