Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
wenigen Augenblicken. Sie hatte begriffen, dass Valentin sie töten würde, hatte den Gedanken akzeptiert, doch nun war Jace hier und ihre Sorge weitete sich auch auf ihn aus. Er wirkte so … so zugrunde gerichtet. Ein Ärmel seiner Schattenjägermontur klaffte bis zum Ellbogen auf und die Haut darunter war mit etlichen Striemen übersät. Auch die Brust seines Hemdes hing in Fetzen an ihm herab und über dem Herzen schimmerte eine verblassende Heilrune, die die hässliche rote Narbe darunter nicht hatte beseitigen können. Seine Kleidung starrte vor Dreck, als hätte er sich auf dem Boden gewälzt. Doch am meisten schreckte Clary der Ausdruck in seinen Augen - sie wirkten völlig … leer.
»Eine Schweigerune. Sie wird dadurch keinen Schaden davontragen.« Valentins Augen hefteten sich auf Jace - gierig, dachte Clary, als würde er seinen Anblick in sich aufsaugen. »Ich nehme nicht an, dass du gekommen bist, um dich mir anzuschließen?«, fragte Valentin. »Um an meiner Seite ebenfalls vom Erzengel gesegnet zu werden?«
Jace musterte seinen Stiefvater mit unverändertem Ausdruck. In seinen Augen war nichts zu erkennen - nicht der Hauch von Zuneigung oder Liebe oder wohlwollender Erinnerung. Nicht einmal Hass. Nur… Verachtung, überlegte Clary. Eine kalte Verachtung. »Ich weiß, was duvorhast«, erwiderte Jace. »Ich weiß, warum du den Erzengel herbeirufen willst. Aber das werde ich nicht zulassen. Ich habe bereits Isabelle losgeschickt, um die Schattenjäger zu warnen …«
»Warnungen werden ihnen nichts nutzen. Dies ist nicht die Sorte von Gefahr, vor der man davonlaufen kann.« ValentinsBlick fiel auf Jace’ Schwert. »Leg das nieder«, setzte er an, »und dann können wir reden …« Doch im nächsten Moment hielt er abrupt inne. »Das ist nicht dein Schwert«, murmelte er. »Das ist ein Morgenstern-Schwert.«
Jace lächelte - ein unergründliches, sanftes Lächeln. »Stimmt. Es gehörte Jonathan. Aber er ist ja tot.«
Fassungslos starrte Valentin ihn an. »Du meinst…«
»Ich habe es vom Boden aufgehoben, wo er es hat fallen lassen«, sagte Jace emotionslos, »nachdem ich ihn getötet hatte.«
Valentin wirkte wie vor den Kopf geschlagen. »Du hast Jonathan getötet? Wie konntest du das tun?«
»Er hätte sonst mich getötet«, erklärte Jace. »Mir blieb keine andere Wahl.«
»So hab ich das nicht gemeint.« Benommen schüttelte Valentin den Kopf; er sah aus wie ein schwer getroffener Boxer kurz vor dem K. o. »Ich habe Jonathan erzogen … ich habe ihn persönlich ausgebildet. Es gab keinen besseren Krieger als ihn.«
»Offensichtlich wohl doch«, erwiderte Jace.
»Aber … aber …«, stammelte Valentin mit brechender Stimme. Es war das erste Mal, dass Clary einen Riss in seiner beherrschten, glatten Maske bemerkte. »Aber er war dein Bruder.«
»Nein, das war er nicht.« Jace ging einen Schritt vor und schob die Klinge näher an Valentins Herz heran. »Was ist mit meinem richtigen Vater passiert? Isabelle meinte, er wäre bei einem Überfall gestorben, aber stimmt das auch wirklich? Oder hast du ihn getötet - genau wie meine Mutter?«
Valentin wirkte noch immer fassungslos. Clary spürte, dasser sich angestrengt bemühte, seine Selbstbeherrschung wiederzuerlangen. Kämpfte er gegen den Kummer an? Oder hatte er einfach nur Angst vor dem Tod? »Ich habe deine Mutter nicht getötet. Sie hat sich selbst das Leben genommen. Ich habe dich lediglich aus ihrem toten Leib herausgeschnitten. Wenn ich das nicht getan hätte, wärst du mit ihr gestorben.«
»Aber warum? Warum hast du das getan? Du brauchtest keinen Sohn - du hattest doch bereits einen!«, konterte Jace. Im kalten Mondlicht wirkte er unerbittlich, dachte Clary, unerbittlich und seltsam, wie ein Fremder. Seine Hand, die Valentin das Schwert an die Kehle hielt, schwankte keinen Millimeter. »Ich will die Wahrheit wissen«, fuhr Jace fort. »Und keine weiteren Lügen über >vom selben Fleisch und Blut<. Eltern belügen ihre Kinder, aber du … du bist nicht mein Vater. Also rück mit der Wahrheit heraus.«
»Ich … ich brauchte keinen Sohn … sondern einen Krieger«, erklärte Valentin. »Und ich hatte gehofft, Jonathan könnte dieser Krieger werden, doch er hatte zu viele dämonische Eigenschaften an sich. Er war zu wild, zu launisch, nicht geschickt genug. Schon damals, als er noch in den Windeln lag, fürchtete ich, dass er niemals die Geduld oder die Anteilnahme aufbringen würde, um
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