Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
vorwärtszuschleppen: Schweißtropfen bildeten sich auf ihrem Rücken, sickerten zwischen den Schulterblättern hindurch. Als sie endlich den Runenkreis um den Altar erreichte, schnaufte sie so laut, dass sie schreckliche Angst hatte, Valentin würde sie hören.
Doch er drehte sich nicht einmal zu ihr um. Er hielt den Engelskelch in der einen und das Engelsschwert in der anderen Hand. Clary beobachtete, wie er mit der rechten Hand ausholte, mehrere Worte sprach, die wie Griechisch klangen, und dann den Kelch kraftvoll in Richtung See warf. Der Kelch schimmerte wie eine Sternschnuppe, während er im hohen Bogen auf das Wasser zuflog und dann mit einem leisen Platscher darin verschwand.
Sofort begann der Runenkreis schwache Hitze zu entwickeln, wie ein glimmendes Feuer. Clary musste sich winden und drehen, um mit der Hand an ihre Stele zu gelangen, die in ihrem Gürtel steckte. Der Schmerz in ihren Handgelenken nahm schlagartig zu, als sie die Finger um den Griff der Stelle krümmte, doch schließlich gelang es ihr, den gläsernen Stab mit einem unterdrückten Seufzer der Erleichterung aus dem Gürtel zu ziehen.
Da sie ihre Handgelenke nicht auseinanderbewegen konnte, umfasste sie die Stele ungelenk mit beiden Händen. Dann robbte sie sich mit den Ellbogen bis dicht an den Runenkreis heran und schaute auf die Zeichen hinab, deren Hitze sie nun im Gesicht spüren konnte. Inzwischen leuchteten die Runenso hell wie Elbenlicht. Valentin hielt das Engelsschwert bereit, um es ebenfalls in denSee zu schleudern; er psalmodierte gerade die abschließenden Worte der Beschwörungsformel. Mit letzter Kraft rammte Clary die Spitze der Stele in den Sand und begann zu zeichnen, wobei sie Valentins Runen jedoch nicht verwischte, sondern mit ihrem eigenen Muster überlagerte und eine neue Rune über das Zeichen schrieb, das seinen Namen symbolisierte. Solch eine winzige Rune, dachte Clary, solch eine winzige Veränderung - in nichts mit ihrer mächtigen Allianz-Rune oder dem Kainsmal zu vergleichen.
Aber zu mehr war sie nicht mehr fähig. Erschöpft rollte sie sich auf die Seite - genau in dem Moment, in dem Valentin ausholte und das Engelsschwert warf.
Mellartach wirbelte kopfüber um die eigene Achse - ein schwarz-silberner Schatten, der sich nahtlos in das Schwarzsilber des Gewässers fügte. Als das Schwert in der Seemitte landete, spritzte eine gewaltige Wasserfontäne hoch, eine Blüte aus platingrauen Tropfen. Die Fontäne stieg höher und höher, wie ein Geysir aus flüssigem Silber, wie aufwärts fallender Regen. Gleichzeitig ertönte ein gewaltiges Dröhnen, wie das Geräusch von brechendem Eis oder einem kalbenden Gletscher - und dann schien der See förmlich zu explodieren: silberne Tropfen, die wie ein umgekehrter Hagelschauer in alle Richtungen spritzten.
Und innerhalb des Hagelsturms stieg der Engel empor. Clary war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte - vielleicht jemanden wie Ithuriel, aber Ithuriel war von den vielen Jahren der Gefangenschaft und Folter geschwächt gewesen. Doch hier stieg ein Engel in seiner ganzen Pracht aus den Fluten aufund Clarys Augen begannen zu brennen, als würde sie in die Sonne starren.
Valentin ließ die Hände sinken und schaute mit einem verzückten Ausdruck im Gesicht wie gebannt gen Himmel - ein Mann, der miterlebte, wie sein größter Wunsch in Erfüllung ging. »Raziel«, stieß er atemlos hervor.
Der Engel stieg weiter und weiter empor, als würde der See unter ihm sich senken und eine gewaltige Marmorsäule in seiner Mitte freigeben. Zunächst tauchte Raziels Haupt aus den Fluten auf, mit fließenden Haaren wie Ketten aus Silber und Gold. Dann die Schultern, weiß wie Stein, gefolgt vom nackten Torso, der über und über mit Runen bedeckt war, allerdings mit goldenen, lebendigen Malen, die wie aufsteigende Funken über seine weiße Haut zuckten. Irgendwie erschien der Engel zugleich gigantisch und doch nicht größer als ein Mensch: Clary schmerzten die Augen beim Versuch, ihn in seiner ganzen Pracht aufzunehmen, und dennoch konnte sie nichts anderes sehen. Während er weiter aufstieg, entfalteten sich hinter seinem Rücken zwei gewaltige Schwingen mit goldenen Federn, von denen jede einzelne mit einem großen goldenen Auge bestückt war.
Der Anblick des Engels war atemberaubend und Furcht einflößend zugleich. Clary wollte die Augen abwenden, doch es gelang ihr nicht. Sie würde sich alles ansehen … sie würde für Jace zuschauen, weil
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