JULIA WEIHNACHTSBAND Band 22
1. KAPITEL
Ein eisiger Wind strich über die Hügel und wirbelte winzig kleine Schneeflocken durch die Luft. Schützend legte Sophie die Hand vor die Augen, während sie sich durch den Sturm zur Scheune vorkämpfte. In vier Wochen war Weihnachten, doch Sophie empfand keine Vorfreude, ihr graute vor dem Fest.
Suchend sah sie sich auf dem Hof um. Endlich entdeckte sie Bram, der gerade Strohballen auslud.
Es war eine knifflige Aufgabe, jeden Ballen einzeln aus dem Anhänger zu hieven, ohne dass die anderen herabfielen. Eine Weile schaute sie Bram zu und bewunderte, wie ruhig und methodisch er diese Aufgabe anging.
Als Bram sich das nächste Mal umdrehte, winkte sie, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Er hielt in der Bewegung inne, als er sie sah. Ihm schien das unwirtliche Wetter nichts auszumachen, während sie sich noch tiefer in ihrer Jacke verkroch, um sich gegen den kalten Wind zu schützen, der ihr die widerspenstigen Locken ins Gesicht blies.
„Hallo.“ Er sprang vom Traktor, gefolgt von der treuen Bess, die sofort auf Sophie zurannte. Sophie bückte sich und streichelte den Hund, der vor Freude ausgelassen an ihr hochsprang, obwohl sich dieses Verhalten für einen ausgebildeten Hütehund nicht geziemte. „Ich wusste gar nicht, dass du kommen wolltest“, meinte Bram.
Sophie richtete sich wieder auf. „Ich habe mich spontan dazu entschlossen.“
Nachdem ihre Mutter erzählt hatte, dass Melissa und Nick im Urlaub waren, hatte sie entschieden, nach Hause zu fahren. Inzwischen aber bereute sie ihren Entschluss.
„Ich bin nur übers Wochenende hier.“
„Jedenfalls ist es schön, dich zu sehen.“ Bram umarmte sie. „Es ist lange her.“
Brams Berührungen hatten immer etwas sehr Tröstliches. Wenn sie seine starken Arme spürte, fühlte Sophie sich sicher und geborgen und wähnte sich in dem Glauben, dass alles in Ordnung sei.
„Freut mich auch, dich zu sehen.“ Sie erwiderte die Umarmung ihres Freundes aus Kindertagen mit ehrlicher Zuneigung.
Gemeinsam gingen sie zum Gatter, hinter dem sich in weitem Bogen das Heideland erstreckte. Früher hatten sie oft hier gestanden und sich unterhalten.
„Und, wie geht’s so?“, fragte Bram.
Statt einer Antwort verzog Sophie das Gesicht.
„Hast du Probleme?“
„Ja … eine Menge“, seufzte sie.
Sophie verschränkte ihre Arme und legte sie auf das Gatter, blickte auf das Tal hinunter und sog tief die frische Luft ein. Sie dachte an die kleine Wohnung in London, die sie sich mit einer Freundin teilte. Ihre Fenster dort gingen auf den Hinterhof und zur Straße mit ihrem Verkehrslärm, der selbst nachts nicht abebbte.
Tief atmete sie den Duft nach Glockenheide und Schafen ein, vermischt mit dem schwachen Geruch von verbranntem Holz, der vom Dorf heraufstieg. Sie spürte, dass ihre Anspannung allmählich nachließ.
So war es ihr auf der Haw Gill Farm immer gegangen. Mochte sie auch noch so aufgewühlt ankommen, ihre Sorgen schienen nicht mehr so schlimm, sobald sie die die vertrauten Düfte ihrer Kindheit wahrnahm.
„ Eine Menge Probleme bedeutet vermutlich, es geht dir so wie immer?“, beschied Bram, und Sophie runzelte die Stirn angesichts seines trockenen Tons.
Typisch Bram. Nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen. Es war erstaunlich, dass sie schon so lange befreundet waren, obwohl sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Sie war chaotisch und ungestüm, während seine Zurückhaltung sich im Laufe der Jahre noch verstärkt hatte. Wo er nachdenklich und bedacht war, neigte sie zu Überschwang. Manchmal brachte er sie schier zur Verzweiflung mit seiner Gelassenheit, doch gleichzeitig kannte Sophie keinen Menschen, der aufrichtiger war als Bram. Er war ihr Fels in der Brandung, ihr ältester Freund, der es immer schaffte, dass sie sich besser fühlte.
„Bring mich nicht zum Lachen“, beschwerte sie sich. „Ich will mich erst besser fühlen, wenn ich dir vorgejammert habe, was alles passiert ist.“
„ Alles klingt ziemlich umfassend“, meinte Bram.
„Spotte nur, aber im Moment läuft wirklich viel schief“, brummte Sophie. Der Wind blies ihr die Locken ins Gesicht, und Bram beobachtete, wie Sophie sie mit der Hand zusammenzuhalten versuchte. Ihm waren ihre Haare immer wie ein Abbild ihrer Persönlichkeit erschienen – wild und unbezähmbar. Oder, wie ihre Mutter häufig anmerkte, ein völliges Durcheinander.
Die meisten Menschen nahmen nur das Ungebändigte ihres Haares wahr, nicht aber die Weichheit oder die
Weitere Kostenlose Bücher