Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
sie war verschwunden … nicht länger in diesem Kellerverlies, sondern woanders … an einem Ort, an dem die Bilder der Vergangenheit wie in einem Wachtraum an ihr vorbeizogen - Fragmente, Farben, Geräusche.
Sie befand sich in einem Weinkeller, der kahl und sauber war. Nur eine einzige riesige Rune bedeckte den Steinboden. Daneben stand ein Mann; in einer Hand hielt er ein aufgeschlagenes Buch und in der anderen eine weiß glühende Fackel. Als er den Kopf hob, erkannte Clary, dass es sich um Valentin handelte: Er war allerdings wesentlich jünger, mit glattem, attraktivem Gesicht und klaren dunklen Augen. Dann begann er zu psalmodieren und sofort schlugen aus den Umrissen der Rune Feuerzungen empor. Und als die Flammen erloschen, lag eine gekrümmte Gestalt zwischen der weißen Asche: ein Engel, mit halb gespreizten, blutigen Schwingen, wie ein Vogel, den eine Kugel vom Himmel geholt hatte …
Dann wechselte die Szenerie. Valentin stand vor einem Fenster, an seiner Seite eine junge Frau mit glänzenden roten Haaren. Als er die Arme ausstreckte, um sie an sich zu ziehen, glitzerte ein silberner Ring an seiner Hand auf, ein Ring, der Clary sehr bekannt vorkam. Mit einem Schlag erkannte Clary ihre Mutter. Doch sie schien sehr jung zu sein, mit weichen und verwundbaren Zügen. Sie trug ein weißes Nachthemd und war eindeutig schwanger.
»Das Abkommen ist nicht nur die dümmste Idee, die der Rat jemals hatte, sondern auch das Schlimmste, was den Nephilim passieren konnte«, stieß Valentin wütend hervor. »Allein die Vorstellung, dass wir an alle Schattenwesen gebunden, an diese Kreaturen gefesselt sein sollen …«
»Valentin«, sagte Jocelyn lächelnd, »genug Politik für heute, bitte. «Sie streckte sich und schlang ihm liebevoll die Arme um den Hals. Auch er betrachtete sie mit einem liebevollen Ausdruck im Gesicht. Doch in seinen Augen funkelte noch etwas anderes, etwas, das Clary einen Schauer über den Rücken jagte …
Dann kniete Valentin inmitten einer Waldlichtung. Ein strahlend heller Vollmond schien auf die Szenerie herab und beleuchtete das schwarze Pentagramm, das in die aufgewühlte Erde des Waldbodens geritzt worden war. Die Zweige der Bäume reichten bis an das Pentagramm heran, doch an den Stellen, an denen sie über seine Konturen ragten, hatten sich die Blätter aufgerollt und schwarz verfärbt. In der Mitte des fünfeckigen Sterns saß eine schlanke, anmutige Frau mit langen, schimmernden Haaren. Ihr Gesicht lag tief im Schatten, doch Clary sah ihre nackten weißen Arme. Die Frau streckte den linken Arm vor sich aus und öffnete die Finger. Clary konnte eine tiefe, klaffende Wunde in ihrer Handfläche erkennen, aus der ein zäh fließender Strom Blut in einen silbernen Kelch tropfte, der auf dem Rand des Pentagramms stand. Im Mondlicht wirkte das Blut pechschwarz, aber vielleicht war es ja auch tatsächlich schwarz.
»Das Kind, das mit diesem Blut in seinen Adern geboren wird«, setzte die Frau mit sanfter, lieblicher Stimme an, »wird Kräfte besitzen, welche die der Dämonenfürsten des Abgrunds zwischen den Welten bei Weitem übersteigen. Der Knabe wird mächtiger sein als Asmodeus, der Dämon des Zorns, und er wird stärker sein als die Shedu, die Sturmdämonen. Mit der richtigen Ausbildung wird es nichts geben, wozu er nicht fähig wäre. Aber ich warne dich«, fugte die Frau hinzu, »das Blut wird ihm auch seine Menschlichkeit rauben, da Gift jeder Zelle das Leben raubt.«
»Ich danke Euch, Herrscherin von Edom«, sagte Valentin. Als er den Kelch mit Blut entgegennehmen wollte, hob die Frau den Kopf und Clary sah, dass sie zwar wunderschöne Züge besaß, aber ihre Augen nur schwarze Höhlen waren, aus denen zuckende schwarze Tentakel herausragten, die wie Fühler die Luft sondierten. Clary stieß einen unterdrückten Schrei aus …
Die Nachtszenerie und der Wald verschwanden. Nun stand Jocelyn jemandem gegenüber, den Clary nicht sehen konnte. Sie war nicht mehr schwanger und ihre leuchtend roten Haare hingen in wirren Strähnen um ihr von Panik verzerrtes, verzweifeltes Gesicht. »Ich kann nicht länger bei ihm bleiben, Ragnor«, sagte sie. »Nicht einen einzigen weiteren Tag. Ich habe in seinen Tagebüchern gelesen. Weißt du, was er Jonathan angetan hat? Ich hätte nicht geglaubt, dass irgendjemand dazu fähig wäre - nicht einmal Valentin.« Ihre Schultern zuckten. »Er hat Dämonenblut verwendet: Jonathan ist kein normaler Säugling mehr. Er ist nicht einmal ein
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