Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
erklärte er. »Einige Regale enthielten Exemplare, die ich nicht einmal anfassen durfte.« Er zeigte auf eine Bücherreihe auf einem der oberen Regalböden, die alle einen einheitlichen braunen Ledereinband besaßen. »Als ich ungefähr sechs war, hab ich einmal eines von ihnen herausgenommen und es aufgeschlagen, um herauszufinden, weshalb darum so ein Wirbel gemacht wurde. Es entpuppte sich als ein Tagebuch, das mein Vater führte. Über mich. Anmerkungen über >meinen Sohn<, Jonathan Christophen. Als er entdeckte, dass ich darin gelesen hatte, hat er mich mit seinem Gürtel ausgepeitscht. Damals habe ich auch zum ersten Mal erfahren, dass ich noch einen zweiten Vornamen besitze.«
Ein plötzlicher Anfall von Hass auf ihren Vater erfasste Clary. »Na ja, jetzt ist Valentin jedenfalls nicht hier.«
»Clary …«, setzte Jace mit einem warnenden Ton in der Stimme an, doch sie hatte sich bereits gestreckt, eines der Bücher vom verbotenen Regal gepackt und es auf den Boden geworfen, wo es mit einem zufriedenstellenden Dröhnen auftraf und liegen blieb. »Clary!«, stieß Jace hervor.
»Ach, komm schon.« Clary schnappte sich das nächste Buch und warf es ebenfalls vom Regal. Staub stieg aus den Seiten auf, als es auf dem Boden auftraf. »Jetzt du!«, wandte sie sich an Jace.
Jace musterte sie einen Moment und dann stahl sich ein leises Lächeln in seine Mundwinkel. Entschlossen griff er ins Regal und fegte mit einer einzigen Armbewegung sämtliche verbliebenen Bücher vom Brett, sodass sie krachend zu Boden stürzten. Bei diesem Anblick brach er in befreiendes Gelächter aus, verstummte aber abrupt. Dann hob er angespannt den Kopf und spitzte die Ohren wie eine Raubkatze, die ein weit entferntes Geräusch wahrnimmt. »Hörst du das auch?«
Was soll ich hören?, wollte Clary gerade fragen, hielt sich aber zurück. Denn im nächsten Moment bemerkte sie es ebenfalls: ein hohes Sirren und Knirschen, wie von einem Mechanismus, der sich in Bewegung setzt. Das Geräusch wurde immer lauter und schien aus dem Inneren der Mauer zu kommen. Unwillkürlich wich Clary einen Schritt zurück - gerade noch rechtzeitig, ehe die Steine vor ihnen mit einem ächzenden, kreischenden Knarzen nach hinten schwangen. Dahinter kam eine Öffnung zum Vorschein - eine Art Tür, die grob in das Mauerwerk gehauen war.
Das Licht von Jace’ Elbenstein fiel durch die Öffnung und gab den Blick auf eine Treppe frei, die in die Dunkelheit hinabführte.
9
S ÜNDIGES B LUT
»Ich kann mich gar nicht erinnern, dass es hier überhaupt einen Keller gegeben hat«, sagte Jace und starrte an Clary vorbei in die klaffende Öffnung in der Mauer. Er hob seinen Elbenlichtstein ein Stück, sodass der Lichtschein von den schwarzen Seitenflächen des Tunnels reflektiert wurde. Die Wände bestanden aus einem glatten dunklen Gestein, das Clary nicht kannte, und die Treppenstufen schimmerten, als wären sie feucht. Ein seltsamer Geruch schlug ihnen entgegen: muffig, modrig, mit einer merkwürdig metallischen Note, bei der sich Clary sofort die Nackenhaare aufrichteten.
»Was könnte sich da unten befinden?«, fragte sie nervös.
»Keine Ahnung.« Jace marschierte zur Treppe und stellte prüfend einen Fuß auf die oberste Stufe. Als sie standhielt, zuckte er die Achseln und machte sich an den Abstieg: Vorsichtig tastete er sich Stufe für Stufe hinab. Etwa auf der Hälfte der Treppe drehte er sich um und sah zu Clary hinauf. »Kommst du mit? Oder möchtest du lieber da oben auf mich warten?«
Clary schaute sich noch einmal schaudernd in der leeren Bibliothek um und folgte Jace dann eilig.
Die Stufen drehten sich in einer immer enger werdenden Spirale in die Tiefe, als befänden sie sich auf dem Weg durch das Gehäuse einer riesigen Meeresschnecke. Als sie den Fuß der Treppe erreichten, verstärkte sich der seltsame Geruch deutlich. Vor ihnen lag ein großer quadratischer Raum, an dessen Steinwänden sich breite Streifen von Feuchtigkeit niedergeschlagen hatten - neben anderen dunkleren Flecken. Der Boden war bedeckt mit Zeichen und Markierungen: ein wildes Durcheinander aus Pentagrammen und Runen und unregelmäßig verteilten weißen Steinen.
Als Jace einen Fuß von der letzten Treppenstufe auf den Boden setzte, knirschte irgendetwas unter seinen Stiefeln und er und Clary schauten gleichzeitig nach unten.
»Knochen«, wisperte Clary. Der Boden war nicht mit weißen Steinen übersät, sondern mit Knochen in allen Größen und Formen.
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