Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
»Was, zum Teufel, hat Valentin hier unten gemacht?«
Der Elbenlichtstein in Jace’ Hand sandte ein unheimliches Licht durch den Raum. »Experimente«, sagte Jace in nüchternem, aber zugleich angespanntem Ton. »Das hat die Feenkönigin doch erzählt…«
»Was für Knochen sind das?«, fragte Clary mit hoher Stimme. »Tierknochen?«
»Nein.« Jace trat mit dem Fuß gegen einen Knochenhaufen, der daraufhin auseinanderfiel. »Nein, nicht nur Tierknochen.«
Clary spürte, wie es ihr die Kehle zuschnürte. »Lass uns umkehren.«
Statt einer Antwort hob Jace die Hand mit dem Elbenlichtstein, der nun hell aufleuchtete und ein grelles Licht ausstrahlte, das selbst die dunkelsten Ecken des Kellers ausleuchtete. Große Teile des Raums schienen leer, aber der hinterste Bereich war mit einem Tuch abgehängt. Irgendetwas befand sich hinter diesem Tuch, eine gekrümmte Gestalt…
»Jace«, flüsterte Clary. »Was ist das?«
Jace schwieg, doch plötzlich hielt er eine Seraphklinge in der Hand. Clary hatte gar nicht mitbekommen, dass er die Waffe gezückt hatte, die im Elbenlicht wie ein Schwert aus Eis schimmerte.
»Jace, nicht«, stieß Clary hervor, doch es war bereits zu spät: Entschlossen marschierte er auf das Tuch zu, hob es mit der Spitze seiner Klinge an und riss es dann mit einem Ruck beiseite. Der Stoff zerfiel zu einer Wolke von Staub.
Jace taumelte zurück, wobei ihm der Elbenlichtstein aus der Hand glitt. Als der grelle Lichtschein zu Boden fiel, konnte Clary einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen: Es war kreidebleich und starr vor Entsetzen. Clary schnappte sich das Elbenlicht, ehe es ausgehen konnte, und hielt es hoch in die Luft, um herauszufinden, was Jace so erschüttert hatte - ausgerechnet ihn, der sonst so unerschütterlich war.
Zunächst erkannte sie die Gestalt eines Mannes - ein Mann, der in schmutzige weiße Lumpen gehüllt auf dem Boden kauerte. An seinen Fuß- und Handgelenken saßen schwere Eisenfesseln, die mit massiven Metallkrampen im Steinboden verankert waren. Wie kann es sein, dass er noch lebt?, dachte Clary entsetzt, während bittere Gallenflüssigkeit in ihrer Kehle aufstieg. Der Elbenlichtstein zitterte in ihrer Hand und das Licht warf tanzende Flecken auf den Gefangenen. Clary sah ausgemergelte Arme und Beine, über und über mit den Narben zahlloser Folterungen bedeckt. Dann drehte der Mann ihr sein totenschädelartiges Gesicht zu, mit schwarzen leeren Höhlen anstelle der Augäpfel. Einen Moment später ertönte ein trockenes Rascheln und Clary erkannte, dass das, was sie für Lumpen gehalten hatte, in Wahrheit Schwingen waren, weiße Schwingen, die sich hinter seinem Rücken zu zwei reinweißen Halbkreisen ausbreiteten - die einzigen reinen Objekte in diesem dreckigen Kellerverlies.
Clary stieß ein trockenes Krächzen aus. »Jace. Siehst du das …?«
»Ja, ich sehe es auch. «Jace stand direkt hinter ihr und seine Stimme klang spröde wie zersprungenes Glas.
»Du hast doch gesagt, es gäbe keine Engel… dass niemand jemals einen gesehen hätte …«
Jace flüsterte leise vor sich hin - anscheinend eine Reihe panikerfüllter Flüche. Zögernd ging er einen Schritt auf die gekrümmte Gestalt am Boden zu und zuckte abrupt zurück, als wäre er von einer unsichtbaren Wand abgeprallt. Ein Blick nach unten verriet Clary, dass der Engel innerhalb eines Pentagramms kauerte, welches aus ineinander verschlungenen, tief in den Boden geritzten Runen bestand; sie glühten in einem schwachen, phosphoreszierenden Licht. »Die Runen«, flüsterte sie, »wir kommen nicht an den Runen vorbei …«
»Aber es muss doch einen Weg geben …«, erwiderte Jace mit brechender Stimme, »irgendetwas, das wir tun können.«
In dem Moment hob der Engel den Kopf. Er hatte goldene Locken, genau wie Jace, die jedoch im Licht des Elbensteins matt und stumpf wirkten, wie Clary mit schmerzlichem Bedauern feststellte. Feuchte Strähnen klebten neben den leeren Augenhöhlen und sein Gesicht war mit schrecklichen Narben übersät, wie ein wunderschönes Gemälde, das Vandalen zerstört hatten. Während Clary ihn entsetzt anstarrte, öffnete der Engel den Mund und ein Klang entstieg seiner Kehle - eine einzelne gesungene Note, ein ergreifender goldener Ton, der andauerte und andauerte und so hoch und süß war, dass sein Klang fast schmerzte …
Plötzlich tauchte vor Clarys Augen eine Flut von Bildern auf. Krampfhaft umklammerte sie den Elbenstein, doch sein Licht war verschwunden …
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