Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
Vanderbilt griff nach einem Zeigestab aus Bambus, ging zur topografischen Übersichtskarte von Südamerika und ließ den Stab auf die Andenregion knallen. Alle sechzehn Redakteure einschließlich Max zuckten zusammen.
»Peru«, sagte Vanderbilt und richtete seine stechenden Augen auf Max. »Ihr Ressort.«
Der Redakteur erwiderte Vanderbilts Blick mit ungutem Gefühl. Täuschte er sich oder war es hier plötzlich wärmer geworden?
Er starrte auf die Karte. Die untere Hälfte von Amerika gehörte zu seinem redaktionellen Zuständigkeitsbereich. Der Global Explorer war eine wöchentlich erscheinende Publikumszeitschrift, die sämtliche Bereiche der Naturwissenschaften umfasste. Von Expeditionen in unbekannte Länder über die neuesten Errungenschaften in Medizin und Technik bis hin zur Entdeckung neuer Tierarten. Es gab kein Thema, das nicht ausführlich und mit größtmöglicher wissenschaftlicher Seriosität behandelt wurde. Natürlich fanden sich auch immer wieder mal Beiträge, die sich über kurz oder lang als Märchen entpuppten, aber die Leser liebten diese Geschichten. Beiträge über Seemonster, Dinosaurier und Schneemenschen gehörten ebenso zum Erscheinungsbild des Explorer wie Berichte über versunkene Hochkulturen und rätselhafte Weltreiche. Doch seit einiger Zeit wehte ein frischer Wind in der Verlagsszene. In Washington war eine neue Gesellschaft gegründet worden. Eine Vereinigung, die sich rühmte, die größte geografische Gesellschaft der Welt zu sein, und die mit ständig wachsenden Mitgliederzahlen protzte. Ihr monatlich erscheinendes Fachmagazin erfreute sich großer Beliebtheit und schickte sich an, dem Explorer den Rang abzulaufen. Sein Name war National Geographie Magazine.
Max schluckte. »Was ist mit Peru?«
»Wann haben Sie zuletzt etwas von Boswell gehört?«
Max blickte verwundert. Harry Boswell war ein Fotograf, der im Auftrag des Global Explorer die Andenregion erkundete. Seine Reise dauerte nun schon über ein Jahr. In regelmäßigen Abständen verfasste er Reiseberichte und schickte diese zusammen mit seinen Aufnahmen an das Verlagshaus in New York. Bisher waren seine Berichte mit größter Regelmäßigkeit eingetroffen, doch seit etwa drei Monaten hatte er nichts mehr von sich hören lassen. Kein Brief, kein Paket, kein Telegramm.
Max begann zu ahnen, worum es bei dieser außerordentlichen Sitzung ging. Er versuchte, sich an das Datum der letzten Sendung zu erinnern. »Es war Dezember vorigen Jahres«, sagte er und seine Stimme klang seltsam dünn. »Er hatte mir ein paar Aufnahmen der Andenregion nahe der chilenischen Grenze geschickt. Recht spektakuläres Material. Sie erinnern sich? Wir brachten einen Bericht darüber im Februar.«
»Und seitdem?«
»Funkstille«, gab Max zu. »Ich habe ein paarmal versucht, ihn telegrafisch über unsere Kontaktleute in Lima zu erreichen, aber Fehlanzeige. Wie es scheint, ist Boswell spurlos verschwunden. Ich wollte noch einen Monat warten, ehe ich eine offizielle Vermisstenanzeige herausbringe.« Er runzelte die Stirn. »Haben Sie Neuigkeiten, was aus ihm geworden ist?«
Statt einer Antwort kehrte Vanderbilt an seinen Platz zurück, griff unter den Tisch und brachte eine Ledertasche zum Vorschein. Es war ein abgewetztes, völlig stockfleckiges Teil, das so aussah, als hätte es das letzte halbe Jahr im Hudson River gelegen. Max hielt den Atem an. Unzweifelhaft die Tasche von Boswell, eine Spezialanfertigung eines Lederwarenherstellers hier in der Stadt. Max erinnerte sich noch, wie stolz der Fotograf ihm seine Neuerwerbung präsentiert hatte, damals, ehe er in Richtung Süden aufbrach. Dreck und Reste von Pflanzenfasern fielen ab, als Vanderbilt die Tasche auf den Tisch legte. Der Zeitungsmogul zog ein Taschentuch aus der Hose, wischte sich kurz die Finger ab und machte sich dann daran, die lederne Deckklappe zu öffnen. »Diese Tasche wurde uns vor drei Tagen aus Lima zugeschickt«, sagte er, sichtlich angeekelt von dem schmutzigen Leder. »Sie kursierte dort für einige Zeit auf dem Schwarzmarkt, ehe einem aufmerksamen Zwischenhändler das Logo unserer Zeitung auffiel.« Er tippte auf das X und den umrahmenden Schriftzug.
»Er setzte sich daraufhin mit unserem Kontaktmann in Verbindung, der in meinem Namen die Preisverhandlungen führte. Die Summe für den Rückkauf dieser Tasche war astronomisch. Mehr Geld, als Sie sich vorstellen können.«
»Und Boswell?«
»Von ihm fehlt bislang jede Spur. Wir wissen nur, dass er sich im Bereich
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