Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
er sie mitzunehmen gedachte. Für wen hielt sich dieses junge Fräulein? Sie tat so, als würde ihr das Haus gehören. Von Humboldt ließ er sich ja Befehle erteilen, aber von diesem Mädchen? Er starrte eine Weile grimmig zu Boden, bis er die belustigten Blicke des Kutschers und des Stallburschen bemerkte. Letzterer war ein netter, aufgeweckter Junge mit apfelroten Wangen. »Probleme mit dem Fräulein Charlotte?« Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht.
Oskar verkniff sich einen Kommentar und schnappte sich den ersten der drei Koffer. Er wollte unbedingt mitbekommen, was im Haus weiter gesprochen wurde.
»Tut mir leid, dass ich mich nicht eher gemeldet habe«, hörte er die Stimme des Mädchens aus dem Speisezimmer. »Aber ich wollte so schnell wie möglich wieder zurück. Dieser Kurbetrieb macht mich wahnsinnig. Du kannst dir gar nicht vorstellen, welch belangloses Zeug da geredet wird. Und dann immer diese dämliche Etikette. Ich bin es leid, im weißen Kostüm herumzulaufen und artig zu knicksen.«
Oskar rückte näher an die Tür, die Ohren weit aufgesperrt.
»Wie geht es meiner Schwester?«, erkundigte sich Humboldt. »Hat sich ihr Zustand verbessert?«
»Mutter geht es den Umständen entsprechend gut«, sagte Charlotte. »Sie ist kräftig genug, alles und jeden in ihrer Umgebung herumzukommandieren, mich eingeschlossen. Trotzdem wird sie wohl noch eine Weile dort bleiben müssen. Mindestens ein halbes Jahr hat der Arzt gesagt. Ihre Lunge ist immer noch sehr schwach.«
»Der Fluch der Frauen in meiner Familie«, sagte Humboldt. »Abgesehen natürlich von dir. Du warst stets mit einer bärenstarken Gesundheit gesegnet. Hast du ihr von unserer Expedition erzählt?«
»Kein Sterbenswörtchen«, sagte Charlotte entrüstet. »Sie hätte sofort wieder einen Tobsuchtsanfall bekommen. Du weißt ja, wie sehr sie es hasst, dass ich unter deinem Dach wohne. Forschung und Wissenschaft sind ihr eben nicht damenhaft genug. Wenn sie auch noch erführe, dass ich mit dir auf Expedition gehe, würde sie durchdrehen. Ich habe ihr erzählt, dass wir eine Reise nach Wien unternehmen und eine Zeit lang nicht erreichbar sein werden.«
»Irgendwann wird sie es trotzdem erfahren«, erwiderte Humboldt düster. »Und dann steht uns mächtig Ärger ins Haus.«
»Nicht, wenn wir es geschickt anstellen«, sagte Charlotte. »Aber darüber müssen wir uns jetzt noch nicht den Kopf zerbrechen. Zuerst mal muss ich mich umziehen. Meinst du, dein neuer Diener hat die Koffer schon nach oben getragen? Einen besonders fleißigen Eindruck macht er nicht gerade.«
Oskar zuckte von der Tür zurück und beeilte sich, auch den zweiten Koffer ins Haus zu tragen. Als er wieder eintrat, stand Humboldts Nichte im Türrahmen.
»Ich dachte, du wärst schon längst fertig«, sagte sie mit missbilligendem Blick. »Was hast du nur die ganze Zeit über getrieben?«
»Ich musste dem Stallburschen mit den Pferden helfen«, log Oskar und ging an ihr vorbei.
»Wer’s glaubt«, sagte das Mädchen und schnappte sich den dritten Koffer. »Jetzt aber ein bisschen plötzlich! Ich sehne mich nach meinem Zimmer und einem warmen Bad.«
In diesem Augenblick kam Eliza aus der Küche. »Charlotte!«, rief sie und umarmte die junge Frau. »Hattest du eine schöne Reise? Du musst durstig sein. Darf ich dir etwas anbieten? Wasser, Kakao oder Tee?« Oskar rümpfte die Nase. Er konnte sich vorstellen, was nun kam: Frauengespräche! Nichts, was man unbedingt belauschen musste.
Er ließ die beiden Damen am Fuß der Treppe stehen und schleppte die Koffer Stufe für Stufe empor. Schon nach der Hälfte kam er mächtig ins Schwitzen. Was hatte dieses Mädchen nur da drin? Ziegelsteine?
Keuchend und schnaufend erreichte er den obersten Treppenabsatz. Mit der Fußspitze öffnete er die Tür zum Mansardenzimmer und trat ein.
Der Raum war groß, luftig und hell. Durch das weit geöffnete Fenster drangen Frühlingsluft und das Gezwitscher von Vögeln. Oskar setzte die Koffer ab und sah sich um. Es gab ein Bett, einen Tisch sowie ein Sofa nebst Beistelltisch. Der meiste Platz wurde von Bücherregalen eingenommen, die entlang den Seitenwänden standen und randvoll mit Werken unterschiedlichster Größe und Ausstattung bestückt waren. Oskar konnte seine Neugier nicht beherrschen. Bücher übten eine magische Anziehung auf ihn aus. Er trat näher. Mit schnellem Blick überflog er die Rücken: Der große Sternenatlas, Vererbungslehre, Vom Einzeller zum Walfisch, Spanisch
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