Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
ratlos zu sein. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine steile Falte gebildet. Unverwandt starrte er auf das Papier, das mittlerweile aussah, als wäre eine Horde Ameisen mit Tintenfüßen darübergelaufen.
Endlich kamen Elizas Finger zur Ruhe. Ihre Hand entspannte sich und ihre Augen wurden wieder lebendig.
Oskar hielt den Kopf schief und versuchte zu entziffern, was da stand. Neben vielen unsinnigen Zeichen trat ganz deutlich ein Wort hervor. Er formte die Buchstaben mit seinem Mund.
»Boswell.«
Humboldt atmete laut hörbar ein. »Harry Boswell?«
»Wer soll das sein?« Oskar blickte verwundert auf. »Jemand, den Sie kennen?«
Der Forscher nickte nachdenklich. »Wenn es der ist, den ich meine, dann ist er ein Fotograf. Ein Reporter des New Yorker Magazins Global Explorer. Ein ziemlich unverfrorener Bursche, aber mutig. Bin ihm vor einigen Jahren mal begegnet. Ihm würde ich eine solch waghalsige Expedition durchaus zutrauen. Kann es sein, dass er es war, den du gesehen hast?«
Eliza schien immer noch unter den Nachwirkungen ihrer Vision zu leiden. Ein fiebriger Glanz lag in ihren Augen. »Harry Boswell. Das ist der Name, den ich im Geiste gehört habe.« Ihre Stimme klang matt und kraftlos. »Er ist in großer Gefahr.«
»Erzähl mir davon.«
»Er wird irgendwo gefangen gehalten. Er … er hat versucht, sich befreien. Es ist ihm gelungen, ein Loch in den Boden zu stoßen, durch das er fliehen konnte. Oh Gott, dieser Abgrund. Tiefer als alles, was ich je gesehen habe.« Eliza hielt Humboldts Hand umklammert. »Er ist über die Unterseite der Holzkonstruktion geklettert. Dann gelang es ihm, eine Brücke zu erreichen. Er wurde entdeckt. Sie haben ihn wieder eingefangen … hässliche Gesichter, wie Vögel. Bucklige, gedrungene Kreaturen, mehr Tier als Mensch.« Ihre Augen waren vor Furcht geweitet.
»Und dann?«, drängte Humboldt. »Was ist weiter geschehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Der Kontakt ist abgerissen. Ich habe ihn verloren. Es tut mir leid.«
Der Forscher streichelte ihr über die Hand. »Ist schon gut. Es braucht dir nicht leidzutun«, sagte er. »Die Tatsache, dass du überhaupt einen Kontakt herstellen konntest, ist mehr, als wir erwarten durften.«
Oskar konnte sich nicht länger beherrschen. »Kontakt} Was für einen Kontakt? Was ist mit Eliza geschehen und wer ist dieser Boswell?«
»Kein Grund zur Aufregung«, sagte Humboldt. »Du warst gerade Zeuge von Elizas besonderer Fähigkeit. Ich hatte dir davon erzählt.«
»Die Telepathie?«
»Ganz recht.« Er stand auf, ging an sein Bücherregal und zog einen dicken, ledergebundenen Band heraus. Er blätterte eine Weile darin herum, dann schien er gefunden zu haben, wonach er suchte. Aufgeschlagen legte er das Buch vor Oskar hin und deutete auf die Überschrift: »Poltergeister, Kugelblitze und Telepathie -ein Ausflug ins Reich des Aberglaubens«.
»Die Telepathie wird hierzulande ins Reich der Märchen und der dunklen Mächte verbannt«, sagte Humboldt. »Ich bin auf meinen vielen Reisen schon so manchen Menschen mit besonderen Fähigkeiten begegnet, doch Eliza ist etwas Besonderes. Sie verfügt über die Gabe, mit anderen Personen in Verbindung zu treten, und seien diese auch noch so weit entfernt.«
»Heißt das, sie und dieser Boswell sind sich gerade in Gedanken begegnet?« Das war doch wirklich zu toll. Oskar stellte sich sofort vor, wie es sein musste, in den Gedanken anderer Menschen herumzuspazieren. Ob er so etwas beruflich verwerten konnte …?
»Davon dürfen wir wohl ausgehen«, sagte der Forscher.
»Dann war er es, der das Foto gemacht hat.«
Humboldt nickte. »Ich glaube, die Platte ist der Schlüssel. Als Eliza sie berührte, muss sie eine Verbindung mit ihm eingegangen sein.«
»Und warum haben Sie das nicht schon früher versucht? Die Platte ist doch jetzt schon seit einer ganzen Zeit in Ihrem Besitz.«
»Haben wir«, sagte Eliza. Ihre Stimme war schwach und leise. »Aber manche Verbindungen brauchen länger als andere. Manchmal geht es nur an bestimmten Tagen oder zu einer bestimmten Stunde.« Ein müdes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Ich fürchte, es ist keine sehr genaue Wissenschaft.«
»Nein, meine Liebe.« Humboldt lächelte sie an. »Es ist Magie.«
»Und wo ist dieser Boswell?«, fragte Oskar.
»So genau kann ich das nicht sagen«, sagte sie. »Irgendwo in Peru. Die Verbindung war nur sehr kurz und die Vision leider nur sehr schwach. Ich habe Berge gesehen und eine Schlucht. Ich bin sicher,
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