Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
den Kopf. »Nicht wirklich.«
»Na, siehst du. Und genauso ist es hier auch. Ich bin sicher, dass ihm diese Prophezeiung schwer im Magen liegt. Ein Teil von ihm will daran glauben, aber es ist sein Verstand, der sich dagegen wehrt. Was nicht in sein Weltbild passt, wird totgeschwiegen. Es darf einfach nicht sein.«
Charlotte warf ihm einen interessierten Blick aus dem Augenwinkel zu. »Für jemanden, der keine gute Schule besucht hat, bist du ganz schön clever, weißt du das?«
»Das hat doch nichts mit der Schule zu tun. Das ist gesunder Menschenverstand.« Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Eines verstehe ich nicht. Warum nimmst du dir diese Prophezeiung eigentlich so zu Herzen? Ist doch bloß eine alte Geschichte …«
»Ja, aber eine Geschichte mit einem unguten Ende.«
»Wie meinst du das?«
»Ich rede von dem Gedicht.«
»Wieso? Was ist damit?«
Charlotte hob den Kopf. In ihren Augen glänzten Tränen. »Die Sonnenkönigin stirbt in der letzten Strophe. Getötet von der Herrscherin der Unterwelt, während diese ihren letzten Atemzug tut.«
42
Eine knappe Stunde später tauchten die Türme und Brücken von Xi’mal aus dem Nebel auf. Die Hurakan beschrieb einen weiten Bogen, verlor langsam an Höhe und legte dann an der riesigen hölzernen Landeplattform an. Irgendwo hinter den Bergen war die Sonne aufgegangen und sandte lachsrote Strahlen über den Himmel.
Das Tal lag noch in tiefen Schatten. Kleine Holzfeuer brannten hier und da und hinterließen Rauchfahnen, die wie feiner Nebel langsam in die Höhe stiegen. Der Geruch nach frisch gebackenen Teigwaren hing in der Luft. Die Fahrt war zu Ende.
Müde, den Kopf voller Gedanken, verließ Oskar als Letzter der fünf Abenteurer das Schiff. Mit schweren Schritten folgte er den anderen über den schmalen hölzernen Steg. Yupan wartete bereits auf sie. Er stand auf der Plattform, wo er von mehreren seiner Diener umringt wurde. Oskar war bedrückt. Sie waren zu keiner Einigung gekommen. Nach dem Gespräch mit Charlotte hatten sie kaum noch miteinander geredet. Jeder hatte sich zurückgezogen, um sich wenigstens für die letzte Etappe der Reise noch ein wenig Schlaf zu gönnen. Es war, als spürten alle, dass es keine einfache Lösung geben würde. Wie sie unbeschadet von hier wegkommen sollten, das stand in den Sternen.
Oskar sehnte sich nach einem Bett, mochte dieses auch nur aus Gras und Binsen bestehen. Er öffnete den Mund zu einem herzhaften Gähnen, hielt jedoch inne. Hinter ihm ertönte ein Hornsignal. Ein zweites folgte, diesmal aus einer anderen Richtung, und noch eines weiter entfernt. Dann ein viertes, recht nah und schräg unter ihnen.
Von überall her hallten auf einmal Signale.
Mit einem Schlag erwachte die Stadt zum Leben. Es war, als habe jemand einen Ast in einen Ameisenhaufen geworfen. Überall öffneten sich Fenster und Türen. Rufe des Erstaunens und der Furcht waren zu hören. Oskar vernahm das Weinen von Kindern und die Schreie besorgter Mütter.
Im Nu waren die Brücken und Plätze gefüllt mit Menschen. Angsterfüllt und mit großen Augen schauten sie sich um. Oskar verstand die Aufregung nicht. Er hatte zuerst gedacht, die Signale hätten etwas mit ihrer Ankunft zu tun, doch dann besann er sich eines Besseren. Es musste einen anderen Grund geben. An der Anlegestelle der Hurakan brach auf einmal hektische Geschäftigkeit aus. Bodenpersonal rannte an ihnen vorbei und begann damit, leere Tanks durch volle zu ersetzen. Kisten wurden in Windeseile von Bord gebracht und durch Apparaturen ersetzt, die wie ein Zwischending aus Kanone und Katapult aussahen. Oskar konnte sehen, dass auch an den anderen Plattformen fieberhaft gearbeitet wurde. Luftschiffe wurden beladen und für den Start fertig gemacht.
»Was ist denn los?« Humboldt bahnte sich seinen Weg zu dem Priester. Oskar folgte ihm, so gut es ging.
»Die Ukhu Pacha«, hörte er den Alten sagen. »Wie es scheint, greifen sie diesmal von mehreren Seiten an. Wir müssen uns in den Schutz der großen Halle zurückziehen.«
Hinter ihnen ertönte ein tiefes Dröhnen. Die Motoren auf voller Kraft, stieg die Hurakan in den Himmel. »Kommt«, rief Yupan ihnen zu. »Wir dürfen keine Zeit verlieren!« Er wechselte einige Worte mit seinen Dienern, dann eilte er in Richtung der langen Brücke, die hinauf zur Tempelhalle führte.
Oskar folgte den anderen, musste sich aber immer wieder umdrehen, um zuzuschauen, wie das gewaltige Schiff langsam in Richtung Südosten abdrehte.
Weitere Kostenlose Bücher