Chroniken der Weltensucher 04 - Der Atem des Teufels
Indischen Ozean lagen.
Sie maß die Strecke mit gespreizten Fingern ab, überschlug das Ganze kurz im Kopf und sagte dann: »Das sind ungefähr zwölftausend Kilometer, was einer reinen Flugzeit von etwa einer Woche entspricht. Pausen und Komplikationen nicht eingerechnet. Und unter euch nur wildes Land.« Sie tippte auf die gerundete Oberfläche. »Da gibt’s vermutlich nur wilde Steppenvölker. Niemand, bei dem man sich gerne aufhalten möchte. Am schlimmsten wird es hier.« Sie deutete auf einen Punkt nordöstlich von Indien. »Dies ist der Himalaya, das höchste Gebirge der Erde. Da müsst ihr drüber. Wie ich gelesen habe, herrschen dort gewaltige Winde und eisige Temperaturen. Ob die Pachacútec das schafft, wage ich zu bezweifeln.«
»Wir können das Gebirge doch umfliegen«, sagte Oskar. »Runter zum Mittelmeer und dann über Syrien, den Irak, Indien und so weiter.«
Lena nickte. »Schon, aber dann dauert es länger.«
Oskar grinste. »Niemand hat behauptet, dass es leicht werden wird. Aber he, wir haben schon ganz andere Schwierigkeiten gemeistert. Wir werden das schon schaffen, vertraut mir.«
Lena sah ihn mit ihren rätselhaften grünen Augen an, sagte aber nichts. Da sie es auch nicht vorzuhaben schien, klatschte sich Oskar auf die Schenkel und stand auf. »Gut, dann ist ja alles gesagt. Macht euch jetzt besser wieder an die Arbeit. Eliza wartet unten auf euch und ich muss auch noch packen.«
Die Freunde nickten und verzogen sich plappernd und plaudernd nach unten. Nur Lena schien nicht gehen zu wollen. Oskar überlegte, ob er sie bitten sollte zu verschwinden, entschied sich dann aber anders. Offenbar hatte sie noch etwas auf dem Herzen. Etwas, wovon niemand sonst etwas wissen sollte. Er wartete, bis die anderen weit genug weg waren, dann schloss er die Tür.
Lena schaute ihn noch immer an. Irgendwie wirkte sie verändert. Es war ihm neulich schon aufgefallen, aber heute war es noch deutlicher.
»Kann ich noch etwas für dich tun?« Er setzte sich neben sie aufs Bett. Lena schien unschlüssig zu sein, wo sie anfangen sollte, doch schließlich gab sie sich einen Ruck.
»Wie lange kennen wir uns jetzt schon?«, fragte sie.
Oskar zog die Stirn in Falten. »Keine Ahnung. Acht Jahre, vielleicht neun. Warum fragst du?«
»Weißt du, ob ich dich in der ganzen Zeit mal um irgendetwas gebeten habe?«
Er dachte kurz nach, dann zuckte er mit den Schultern. »Mir fällt spontan nichts ein. Ich glaube nicht, nein. Du warst immer die Selbstständigste von uns. Hast deine eigenen krummen kleinen Dinger gedreht und bist uns nie auf der Tasche gelegen. Selbst das Lesen hast du dir selbst beigebracht.«
Sie nickte, ihre grünen Augen fest auf den Teppich gerichtet. »Heute möchte ich dich um etwas bitten.«
Oskar bemerkte, dass die Sommersprossen auf ihrer Nase und ihren Wangen während des letzten halben Jahres blasser geworden waren. Schminkte sie sich etwa? Der zarte Duft von Rosenöl stieg ihm in die Nase. Er wusste nicht, wie er darauf kam, aber plötzlich dachte er daran, dass Lenas Mutter eine sehr schöne Frau gewesen sein musste. Keine der üblichen Straßendirnen, die nahe der Oranienburger ihr Aussehen in klingende Münze verwandelten. Nein, eine echte Schönheit. Jemand, in dessen Anwesenheit man sich sofort befangen fühlte. Lena hatte nie über ihre Herkunft gesprochen, keiner hatte das. Es war ein ungeschriebenes Gesetz unter Straßenkindern, dass die Vergangenheit egal war, zumal die meisten ihre Eltern nicht einmal kannten. Dass ihr Vater Pole gewesen war, ließ sich unschwer aus ihrem Familiennamen Polischinski ableiten. Aber woher ihre Mutter stammte, hatte er nie erfahren. Es gab Gerüchte, sie sei Irin gewesen. Eine aparte Rothaarige von der grünen Insel.
Er räusperte sich. »Kommt darauf an, was es ist.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Entweder ja oder nein, kein vielleicht. Vorsichtiges Herumtaktieren passt nicht zu dir.«
Er überlegte kurz, dann sagte er: »Also gut. Schieß los.«
»Ich möchte mitkommen.«
Oskars Augenbrauen schossen in die Höhe. »Wie bitte?«
»Ich möchte mit dir an Bord der Pachacútec gehen und zu den Inseln und den Vulkanen im Indischen Ozean fliegen. Das wäre mein größter Wunsch. Meinst du, du könntest das arrangieren?«
Oskar war sprachlos. Er hatte mit einigem gerechnet, aber nicht damit. »Das kommt ein bisschen überraschend.«
»Ja oder nein?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich kann Vater ja mal fragen, aber ich weiß jetzt
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