Chuzpe
Stunden hatte es gedauert, bis der Bergmann weichgekocht gewesen war. Bronstein fuhr sich mit der flachen Hand über das Genick und erhob sich. „Schätze, das war’s dann. Gehen wir heim! Pokorny, hol die Kollegen, die sollen ihn in die Zelle bringen. Den Bericht schreiben wir dann morgen. Er wird’s nicht eilig haben.“
Wenige Minuten später war Bergmann abgeführt. Bronstein nahm Pokornys Gratulation beiläufig entgegen und wünschte ihm noch eine gute Nacht. Er schlich die Haupttreppe abwärts und trat in die kalte Nacht. Er brauchte mehrere Versuche, um die Zigarette zum Brennen zu bringen. Die Stadt lag vollkommen still zu seinen Füßen. Bronstein sah automatisch nach links und dann nach rechts.
Er verspürte einen bitteren Geschmack im Mund, der nicht vom Tabak stammte. Er war eine Folge der Geschichte, die er eben gehört hatte. An Tagen wie diesen hasste er seinen Beruf. Man musste in Abgründe blicken, die man sich liebend gern ersparen würde. Auch als Polizist konnte man immer nur eine gewisse Menge Trostlosigkeit vertragen, und die war in den letzten Wochen und Monaten um ein Vielfaches überschritten worden. Auch wenn es keinen logischen Grund dafür gab, aber der Bergmann tat ihm leid. Noch mehr dauerte ihn allerdings das Schicksal der Feigl, die in ihrem Leben wohl kaum jemalsglücklich gewesen war. Alle ihre Hoffnungen waren jäh zerstört worden und sanken mit ihr ins Grab. Und das galt auch für all die Kameraden an der Front, die ihr Leben hatten lassen müssen für einen vollkommen sinnlosen Krieg, der nichts gebracht hatte als Zerstörung, Not und Elend. In Paris hatten sie die Straßen beflaggt, um den Sieg zu feiern. Welchen Sieg denn? Waren nicht auch Millionen Franzosen gefallen oder zu Krüppeln geworden? Irgendwo in Margareten beweinte ein trauriger alter Mann den Tod seines einzigen Kindes, eine Szene, die sich genau so millionenfach in ganz Europa zutrug. Generalleutnant Spitzer von Grabensprung hatte von einer Chuzpe gesprochen, ihn für einen Befehl im Krieg zur Verantwortung ziehen zu wollen. Die wahre Chuzpe war es gewesen, diesen Krieg überhaupt erst beginnen zu lassen.
Und nun war nichts mehr, wie es zuvor gewesen. Die Monarchie gab es nicht mehr, und was irgendwelche Republikaner als Neubeginn bejubelten, das sah verdächtig nach neuerlicher Gewalt aus. Die Nachfolgestaaten stritten schon jetzt um den Nachlass, und die Verlierer schworen bereits Rache. Das konnte keine neue Zeit werden. Nein, für Jubel gab es keinerlei Anlass. Selbst die Ausrufung der Republik hatte Opfer gekostet. Und jene, die dafür die Verantwortung trugen, die Politiker, die Industriekapitäne und die Militärs, sie waren ohne Frage weit größere Verbrecher als dieser unglückselige Bergmann, den der Krieg so verroht hatte, dass er Recht nicht mehr von Unrecht hatte unterscheiden können.
Ohne es zu merken, war Bronstein den Ring hinunterspaziert und sah sich plötzlich am Ufer des Donaukanals. Jelkas Wohnung war nur noch einen guten Kilometer entfernt. Er tastete nach dem Wohnungsschlüssel, spürte ihn, und setzte seinen Weg fort. Es mochte sein, dass die alte Wienerstadt schon größere Katastrophen als diesen Krieg gesehen hatte, doch mit Vergleichen war niemandem gedient. Jeder erlebte seine eigene Tragödieals das größte anzunehmende Unglück, und die Erkenntnis, dass es anderen ähnlich erging, war keineswegs tröstlich.
Der körnige Schnee, der vom Himmel fiel, ging allmählich in Regen über. Bronstein hoffte, es würde nicht kälter werden, denn dann bestand die Chance, dass der Regen all den Schmutz von den Straßen wusch. Seine Seele jedoch, das wusste er, würde kein Regen dieser Welt je reinigen können.
Bronstein hatte endlich den Karmeliterplatz erreicht und betrat Jelkas Wohnhaus. Er stieg das Treppenhaus empor und öffnete die Wohnungstür. Zu seiner freudigen Überraschung lag Jelka in ihrem Bett und schlief. So leise, wie es ihm möglich war, entledigte er sich seiner Kleidung und legte sich zu ihr. Er sehnte sich nach Schlaf, um nicht mehr nachdenken zu müssen.
GLOSSAR
a
ein, eine
a
Sprossvokal ohne Bedeutung (des war a so = das war so)
a, aa
auch (je nach Betonung)
abmarkieren
abtreten
abpaschen
davonlaufen
annoch
veraltet für „noch“
Anserlandl
Landesgericht 1, heute Justizanstalt Josefstadt
as
es
auße
hinaus, heraus
Barras
Militär
B-Beamter
Beamter mit Matura
bes
böse
Beuschel
Lunge
Combineige
Unterkleid
Couloir
Wandelgang im Parlamentsgebäude
da
dir
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