Ciara
Zimmer. Sie schien nicht überrascht über den Ton. Vielleicht war er nicht so laut, wie er ihn vernommen hatte? Sie redete auf ihn ein, doch Paul verstand die Worte nicht mehr. Alles, auf das er sich konzentrieren konnte, war die dünne Haut der Lippen, unter der das Blut so deutlich zu erkennen war. Sein Magen grollte laut. Sein ganzer Körper begann zu beben, er brauchte jetzt etwas, damit es aufhörte und sein Verlangen gestillt wurde. In seinem Kopf klickte ein Schalter um und sein Verstand setzte aus. Wie ein wildes Tier sprang er die Frau an. Der Schrei, den sie ausstoßen wollte, erstickte in Pauls Mund.
Eine weitere Frau eilte zu Hilfe. Alles ging blitzschnell, Paul ließ ab von der Blonden und tötete die andere mit einem kräftigen Biss in den Hals. Sein Verstand schrie, er möge innehalten und sehen, was er anrichtete. Doch noch war er nicht in der Lage aufzuhören, noch hatte er seine Gier nicht vollkommen gestillt. Für einen Wimpernschlag dachte er nach. Er zuckte zurück. Dann hörte er ein Geräusch auf dem Flur – ein Schlüssel fiel zu Boden und holte ihn aus dem Wahn zurück in die Realität. Jemand steckte den Schlüssel in das Schloss. Paul starrte auf die beiden blutverschmierten Frauenleichen zu seinen Füßen. Er hatte sie getötet, er war es … Doch das Grollen in seinem Magen forderte mehr. Er keuchte, und bevor sich die Eingangstür öffnete und ein weiterer Mensch ihm zum Opfer fallen konnte, biss sich Paul die Fingerkuppe seines kleinen Fingers ab, um sich selbst zu stoppen. Der blitzartige Schmerz, der sich daraufhin von seinem Finger über die Hand und den Arm ausbreitete und schließlich den gesamten Körper einnahm, brachte ihn in die Realität zurück. Er behielt den Finger im Mund, um keine Blutspuren zu hinterlassen, stürzte aus der Tür an einer erschrocken schauenden älteren Frau vorbei. Er rannte die Stufen hinab und hörte kurz darauf das Kreischen der Frau, die seine Tat entdeckt hatte.
Ciara zuckte zusammen und öffnete die Augen.
Sie schaute zu Mike hinüber, der zu schlafen schien. Er murmelte etwas, vermutlich träumte er. Niemals durfte er erfahren, zu was Paul fähig gewesen war und wie er einen Teil seines medizinischen Wissens erlangt hatte. Erneut schloss sie die Augen und schlief diesmal ein.
Mike trat aus dem Nichts seiner Gedanken vor einen alten gezimmerten Holzverschlag, an dessen Außenseite ein vergilbtes Stück Pergament mit zwei verrosteten Nägeln festgehalten wurde. Ausgestanzte Löcher von unterschiedlicher Größe bildeten darauf Wege oder kennzeichneten namenlose Orte.
Er riss das Papier ab und fuhr mit einem Finger über die Ausstanzungen, bis er die Anwesenheit eines weiteren Menschen bemerkte. Rasch drehte er sich zur Seite und schaute in Ciaras Gesicht, die sich in seinen Traum geschlichen haben musste.
›Was mache ich hier? Ist das mein Traum oder deiner?‹, fragte sie deutlich vernehmbar, jedoch ohne ihre Lippen zu bewegen.
›Es ist mein Traum‹, erwiderte Mike.
›Was hast du da?‹ Ciara wies auf das Papier in seiner Hand. Er reichte es ihr, doch auch Ciara wusste nichts mit den eigenartigen Markierungen anzufangen und gab es Mike zurück. So ordentlich es mit einer Hand ging, faltete er das Papier zusammen und steckte es in seine Hosentasche.
›Wo ist das Frettchen?‹, fragte Ciara.
›Im Koffer, im Laderaum.‹ In Anbetracht der Tatsache, dass er sich in einem Traum aufhielt, empfand Mike seine Antwort als so albern, dass er zu lachen begann und erst aufhörte, als Ciara schüchtern mit ihrer Hand in seine Rechte rutschte und ihn mit sich zog.
›Wohin gehen wir?‹ Es interessierte Mike nicht im Geringsten, welchen Weg sie einschlug, solange Ciara ihn nur nicht losließ. Wie konnte er nur so denken, wo er doch träumte?
›Ich zeige dir meine Mom. Sie muss hier irgendwo sein.‹ Ihre Stimme klang glücklich und heiter, obwohl sie doch eben erst Paul verloren hatte.
Ciara führte ihn einen Hügel hinauf, der soeben entstanden sein musste. Er wuchs mit jedem Meter, den sie zurücklegten, zu einem steilen Berg heran. Als Mike glaubte, vor Erschöpfung zusammenzubrechen – er wunderte sich darüber, so ein Gefühl in einem Traum zu verspüren, und fragte sich wiederholt, weshalb er über so etwas nachdachte –, erreichten sie den Gipfel. Im Tal erspähte er ein von dunklen Schatten überdecktes, hügeliges, trostloses Land.
›Dort!‹, rief Ciara und rannte allein los.
Mike erkannte nichts, doch er wollte sie
Weitere Kostenlose Bücher