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Ciara

Ciara

Titel: Ciara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Rensmann
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nicht verlieren. Darum preschte er hinter ihr her; es kostete ihn Mühe, sein Gleichgewicht zu halten. Der Gips an seinem Arm hinderte ihn daran, abwärts schneller zu laufen. Wenigstens im Traum könnte dieses Scheißding doch verschwinden.
    Er verlor Ciara aus den Augen und rief nach ihr. Ein ›Hier!‹ wies ihm den Weg, und er folgte dem Echo. Endlich erspähte er sie an der Grenze eines Wäldchens, das an Umfang und Volumen zunahm und in Sekundenbruchteilen zu einem undurchdringlichen Forst heranwuchs. Über ihnen leuchtete der Vollmond und wies Mike darauf hin, dass er diesen Traum schon einmal geträumt hatte. Verzweifelt versuchte er aufzuwachen. Doch Ciara jagte durch den Wald und er, als folgte er einem inneren Drang, hinter ihr her. Er bat sie anzuhalten.
    An einer kleinen Lichtung blieb sie stehen. Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte jetzt Ciaras Lippen, dann öffnete sie ihren Mund und entblößte unnatürlich spitze und lange Schneidezähne.
    ›Du bist ein Vampir!‹
    Ciaras Lächeln erstarrte. ›Als Vampir muss ich töten, aber ich bin eine Hexe. Ich darf niemandem Schaden zufügen.‹ Sie biss sich auf die Lippen.
    ›Und der Hund?‹
    ›Ich habe den Hund nicht getötet.‹
    ›Aber woher hattest du dann das Blut?‹
    Von irgendwo drangen Gesänge zu ihnen, so laut und in den höchsten Tonlagen, dass Mike sich die Ohren zuhalten musste.
    ›Was ist das?‹, brüllte er über den lauten Chor hinweg. Ciara schüttelte den Kopf.
    Sie trat Mike entgegen und schrie: ›Hilf mir!‹ Diesmal nahm er ihre Hand und führte sie den Weg zurück. Als sie den Verschlag gemeinsam erreichten, hing dort ein neues Papier. Es flatterte im Wind und kratzte dabei über das Holz.
    Sie traten näher heran und erkannten, dass es sich um keine gewöhnliche Karte handelte, sondern um eine lederartige Leinwand, auf der ein Film ablief:
    Ein Mann, vom Alter gebeugt, sein Gesicht so zerfurcht, als habe er jedes Jahr mit einem Dolch hineingeritzt, um sich an die verrinnende Zeit zu entsinnen. Und demnach mussten es unendlich viele Lebensjahre sein. Das grauweiße Haar reichte ihm in langen, dünnen Fetzen bis zu den gekrümmten Kniekehlen. Er wandelte durch einen dunklen Raum und stoppte vor dem Fenster an der Wiege eines Kindes. Silbrige Lichtstrahlen des Vollmondes fielen durch das Sprossenfenster, das vom Boden bis zu den hohen Decken reichte und oben in einer Rundung zusammenlief.
    Eine Hand, die weitaus mehr Runzeln als sein Gesicht aufwies und dazu mit Altersflecken übersät war, die sich mit Muttermalen verbanden, hielt ein Messer.
    Ciara hielt die Luft an. Sie erkannte das Athame sofort.
    Der Alte lächelte das Baby liebevoll an, und obwohl der Säugling erst wenige Minuten alt sein musste, lächelte er zurück.
    »Die Zeit ist gekommen«, krächzte der Alte, zog das Ritualmesser und ritzte seine eigene Kehle von links nach rechts auf. Er röchelte. Blutspritzer landeten auf dem Gesicht des Babys, die sich auf dessen Haut als Sommersprossen verewigten. Aus dem Mund des Alten strömte ein regenbogenfarbener Nebel, der sich wie eine Schlange durch die Luft ringelte – auf den offenen Mund des nun schreienden Kindes zu. Bei jedem Atemzug saugte das Baby den Schleier ein, in dem bizarre Bilder so rasant abliefen, dass weder Mike noch Ciara darin etwas erkannten.
    »Das ist mein Dad! Das ist mein Vater!« Ciara schrie im Traum, schlug mit der flachen Hand gegen die Leinwand und schluchzte, sie kreischte hysterisch, boxte um sich. Verzweifelt versuchte Mike, sie zu bändigen. Schmerz explodierte in seinem gebrochenen Arm, als Ciara mit Wucht gegen den Gips hieb.
     
    Endlich erwachte er.
    Ciara schlug weiter um sich, bis Mike ihr eine Ohrfeige verpasste. Sie erstarrte in der Bewegung, öffnete die Augen und schaute ihn bestürzt an.
    Die in der Nähe sitzenden Passagiere bedachten sie mit neugierigen Blicken. Scheinbar erhofften sie sich, am Ende ihres Fluges eine handfeste Ehekrise mitzuerleben.
    »Wir landen in fünf Minuten, bitte schnallen Sie sich an«, ertönte die Stimme einer Stewardess durch die Lautsprecher und lenkte die Umsitzenden von Ciara und Mike ab.
    Mit beiden Handflächen rieb sich Ciara über das Gesicht, als wolle sie das Blut fortwischen, das vor zwanzig Lebensjahren dort hingespritzt worden war und einzigartige Pigmentnarben hinterlassen hatte.
    »Kannst du – bitte deine Zähne entblößen.«
    Ciara drehte sich zu Mike und lächelte mit aufgerissenem Mund wie eine Verrückte.
    »Alles okay,

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