Ciara
fasste Ciara an den Oberarmen. Sie flüsterte ihr etwas zu. Doch noch bevor Ciara durch Gesten darum bitten konnte, lauter zu sprechen, brauste ein Sturm los, fegte wie ein Kreisel um sie herum, riss an ihren Kleidern und den roten Haaren.
Ciara versuchte, von den Lippen abzulesen, was ihr nur bruchstückhaft gelang. »Vorsicht«, deutete sie. »Vater – Erbe –« Dann steigerte sich der Sturm zu einem Tornado, der die Frauen auseinandertrieb, ihre Körper erfasste und in seinem Sog fortwirbelte. Sie streckten sich ihre Arme entgegen, aber es gelang ihnen nicht, sich zu berühren und zu halten. Ciara erkannte Tränen, die über das Gesicht ihrer Mutter liefen.
Als der Orkan endlich abflaute, war Ciara allein – sie fiel – und fiel – dann schreckte sie auf und erwachte.
Ein leises Wimmern drang an ihre Ohren, das erst verstummte, als sie begriff, dass sie selbst diese Töne ausstieß. Fest presste sie die Lippen aufeinander. Eingeengt zwischen Toilette und Bidet lag sie auf dem Boden. Ihr Körper fühlte sich wie eine einzige offene Wunde an, dennoch zog sie sich hoch und ließ sich auf den Klodeckel fallen. Vor Schmerzen krümmte sie sich. Ihr Atem rasselte, als leide sie unter einer schweren Lungenentzündung.
Doch nicht nur ihre geräuschvolle Atmung nahm sie wahr, auch das Blubbern der Wasserleitung in den Wänden erschien ihr lauter als jemals zuvor. Etwas scharrte über die Kacheln, hinter ihr. Das Trommelfell schmerzte vor Vibration und sie verspürte Angst. Etwas geschah mit ihr. Vielleicht träumte sie auch noch, aber sie erinnerte sich nicht, in einem Traum jemals solche Schmerzen verspürt zu haben.
»Sei mutig. Schau nach«, raunte sie. Doch ihre Worte hallten von den Wänden zurück, als habe sie diese durch ein Megaphon gebrüllt. Ciara hielt sich den Mund zu. Steif drehte sie den Oberkörper zur Seite. Sie wusste, dass sie sich bewegte, denn ihre Perspektive änderte sich – hatte sie wenige Sekunden vorher noch auf die Tür gestarrt, sah sie nun die Badewanne –, doch sie spürte die Bewegung nicht an ihrem Körper, sondern nahm sie nur im Gehirn wahr, das dabei vor Schmerzen zu explodieren schien.
Alles irrational. Vollkommen falsch. Sie stöhnte und zuckte zusammen, als habe diesen Laut eine fremde Person ausgestoßen.
Ihr Blick huschte an der Wand entlang. Trotz der Dunkelheit, die in dem Raum herrschte, entdeckte sie eine Fliege, die sich wie ein schwarzer, wandernder Punkt von den hellen Fliesen abhob. Was ging hier vor? Kein Licht drang in den Raum, und doch sah Ciara jeden Umriss so deutlich wie auf einem gut belichteten Schwarzweißfoto.
Ciara schloss die Augen, wandte sich nach vorn und massierte ihre Ohren, als könne das absurde Geräusch der sechs Fliegenbeine davon verschwinden. Aber diese Berührung klang in ihrem Kopf, als würde sie mit ihren Fingern durch den Schädel dringen, darum legte sie ihre Hände in den Schoß – so leise wie möglich. Sie wollte schreien. Oder wieder schlafen und träumen. Besser noch: sterben. Ja, warum war sie nicht tot? Nach alledem hätte sie einen Neuanfang verdient. Sie wollte fort von hier, von dem, was mit ihr geschah.
Durch die wirren Laute hindurch versuchte sie, nach dem Eindringling zu lauschen, doch alles, was sie vernahm, waren die Schritte der winzigen Fliegenbeine hinter ihr, als poltere eine Elefantenherde durchs Bad.
Mit einem entsetzten Aufschrei riss Ciara die Hände hoch und hielt sich die Ohren zu. Im Badezimmer musste ein Hubschrauber seinen Propeller angeworfen haben. Sie blickte sich im Raum um und nahm ihre eigenen Bewegungen wie in Zeitlupe wahr. Dann entdeckte sie die Fliege, die an ihr vorbeischwirrte und einen Rundflug durchs Badezimmer wagte. In Ciaras Kopf begann ein Hammer, permanent zu schlagen und gegen den Lärm anzukämpfen. Die Angst vor dem Fremden, der sie hören, aufstöbern, sie töten oder Schlimmeres mit ihr anstellen könnte, brachte sie dazu, die Schreie, die aus ihr herausdrängten, zu ersticken, indem sie sich in den Unterarm biss.
Ihr Herzschlag, den sie bisher unter Kontrolle gehabt hatte, beschleunigte sich und reihte sich als rhythmischer Trommelschlag in das Surren des wirbelnden Rotors ein. Ciara schloss die Augen und presste beide Handflächen fester gegen die Ohrmuscheln, aber die Laute drangen durch ihre Finger hindurch und bebten in ihrem Schädel. Verzweifelt grübelte sie darüber nach, wie sie die Fliege aus dem Raum und aus ihrem Gehirn verbannen konnte. Sie wollte das
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