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Ciara

Ciara

Titel: Ciara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Rensmann
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die ihn umarmte, und auch nicht das Antlitz der Frau, die ihm gezeigt wurde. In seinen Träumen besaßen die Frauen keine Erkennungsmerkmale. Die Gesichter glichen mit dunkler Farbe überpinselten, konturlosen Steinen. Doch nach alldem, was in den letzten Stunden geschehen war, hatte Paul geahnt, wer die Frauen in seinen Träumen gewesen waren.
    ›Erzähle mir von dem Eindringling!‹, bat Paul, denn er wollte ihr nicht von seinen Träumen erzählen.
    In kurzen, abgehackten Sätzen berichtete Ciara von der Wahrnehmung, die sie verschreckt hatte: ›Es war, als liefe jemand durch die Halle und die Treppe hinauf. Das Knarren der Stufe. Ich habe es eindeutig gehört. Und dann ging er den Flur auf und ab. Ist er noch hier?‹
    ›Nein.‹
    ›Was macht dich da so sicher? Sag mir doch endlich, was mit mir los ist! Was mache ich überhaupt hier?‹
    ›Du wirst lernen, damit umzugehen.‹ Paul koppelte einen Schlauch mit der Kanüle und befestigte daran einen Blutbeutel. ›Sobald Plasma und Zellen wieder im Normbereich liegen, helfe ich dir dabei.‹
    ›Es liegt am Blut?‹, fragte Ciara stumm nach.
    Paul lächelte. Er begann, das Mullpflaster an Ciaras Taille mit einer sterilen Flüssigkeit einzusprühen, damit es sich leichter von der Haut löste.
    ›Der starke Blutverlust hat deine Sensibilität geweckt. Du musst lernen, sie zu kontrollieren und richtig einzusetzen.‹
    ›Warum hast du mich hierher gebracht? Warum bin ich nicht mehr im Krankenhaus?‹
    Vorsichtig zog Paul das Mullpflaster von Ciaras Bauch. ›Schau dir deine Wunde an.‹
    Ciara richtete sich auf. Auf dem glatten Schnitt klebte eine trockene Kruste, unter der bereits ein Ansatz neuer Haut zu erkennen war. Zwei von vier Nahtfäden waren in dem Verband haften geblieben.
    In wenigen Tagen schon würde der Körper die übrigen abstoßen, und in einigen Wochen sollte ihre Haut so glatt und unverletzt sein wie vor dem Überfall. Niemand würde dann noch feststellen können, dass sie dort mit einem Messer schwer verletzt worden war.
    ›Nicht deine verborgene Sensibilität allein wurde geweckt, auch deine Selbstheilung.‹ Er legte eine Hand auf ihre Stirn. Die Körpertemperatur war erhöht, dürfte im Laufe der nächsten Stunden jedoch in den Normbereich zurücksinken. Behutsam wickelte er den Verband von ihrem Hals ab und schüttelte beim Anblick der gut verheilten Wunde den Kopf. Er flüsterte, was er nicht zu denken wagte: »Du bist mehr, als ich mir je hätte vorstellen können.« Ehrfurcht und Bewunderung schwangen in seinen Worten mit und etwas anderes, das er im Keim zu ersticken versuchte.
    ›Ich verstehe das nicht.‹ Ciara strich sich über die Stirn.
    ›Du wirst lernen und verstehen – mit der Zeit.‹
    Ciara stöhnte, ihr Körper bäumte sich auf.
    »Shit, ich habe das Sedativum vergessen. Habe etwas Geduld; die Schmerzen, die nicht von dem Überfall stammen, sondern von der Aktivierung deiner Heilungskräfte, werden bald von selbst verschwinden.«
    »Ich habe keine Geduld. Oben, vierte Tür links. Im Schrank. Dort steht eine schwarze Flasche, bring sie mir, bitte.« Sie presste die Worte zwischen den Zähnen hindurch und schloss die Augen.
    »Ich kenne den Weg«, Paul nahm zwei Stufen gleichzeitig, bis er den oberen Flur erreichte. Schnell durchquerte er den leeren Vorraum und betrat das Zimmer, das er schon von seinem ersten Besuch her kannte. Diesmal jedoch hatte er die Erlaubnis, den Schrank zu öffnen. Paul zog an den eisernen Ringen, die als Türklinken dienten, woraufhin die schweren Massivholztüren leise knarrend zur Seite schwangen. Unzählige Dosen, Tiegel und Flakons in verschiedenen Farben und Formen reihten sich auf mehreren Brettern. Darunter fand Paul nur eine einzige schwarze Flasche. Bevor er sich jedoch auf den Rückweg machte, erhaschte sein Blick etwas, das hinter all den Utensilien versteckt schien und dennoch optisch hervorstach. Er schob ein paar der Gefäße zur Seite und entdeckte eine versiegelte silberne Urne. Obwohl das glatte Metall keine Gravur aufwies, ahnte Paul, wessen irdische Überreste dort ruhten. Er neigte seinen Kopf minimal nach vorne, wie bei einer angedeuteten Verbeugung, schloss dann behutsam die Türen des Schrankes, eilte aus dem Raum und die Treppe hinab.
    Aus den Augenwinkeln nahm er flüchtig die Gemälde wahr. Abrupt blieb er stehen. Eine unsichtbare Macht zog ihn wie ein Magnet zu Ciaras gemaltem Antlitz. Jetzt erkannte er, was ihn beim letzten Mal gestört hatte; ein dunkelroter Fleck

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