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Ciara

Ciara

Titel: Ciara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Rensmann
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kleine Insekt nicht erschlagen, aber gab es eine andere Möglichkeit? Sie suchte nach einer Waffe, einem Gegenstand, nach irgendetwas, mit dem sie das Insekt einfangen konnte. Aber weder die Handtücher auf dem Badewannenrand noch der Zahnputzbecher schienen ihr geeignet. Sollte sich die Fliege nicht bald hinsetzen, würde Ciara das lästige Vieh mit ihren eigenen Händen zerquetschen. Und ihr Herz? Musste sie es sich herausreißen, damit endlich Ruhe einkehrte?
    ›Oh bitte, Fliege! Fliege, setz dich hin. Bitte!‹, flehte Ciara in Gedanken.
    Das Geräusch des nervenzerfetzenden Propellers verstummte augenblicklich. Jetzt hörte sie nur noch das Hämmern ihres Herzschlags und das Rauschen ihres Blutstromes. Sie konzentrierte sich auf das Pochen, das aus ihrem Körper in ihr Gehirn drang, langsam abflaute und sich bald normalisierte.
    Verwirrt über die angenehme Konsequenz ihres in Gedanken ausgesprochenen Befehls, hielt sich Ciara noch eine Weile die Ohren zu, schließlich nahm sie die Arme herunter.
    Ruhe.
    Endlich Ruhe! Bis auf das Blubbern der Wasserleitung, das sie jedoch schon beinahe als vertraut empfand.
    Erleichtert lehnte sie sich gegen die Wand und die Wasserspülung. Ciara hielt die Luft an. Ein Wasserfall rauschte unter ihr hindurch, der sie mitgerissen hätte, wenn er nur einen Bruchteil der Wassermengen tatsächlich transportieren würde, deren Hall Ciara markerschütternd vernahm.
     
    Paul parkte den BMW in der Auffahrt, griff nach den Kartons, die im Fußraum des Beifahrersitzes lagen, und verschloss den Wagen, obwohl ein Dieb ungehindert durch die zerbrochene Scheibe eindringen konnte. Er glaubte nicht, dass sich jemand ausgerechnet hierher verirren würde, um sein Auto zu stehlen.
    Während Paul auf das Haus zueilte, dachte er daran, dass er den Wagen in eine Werkstatt bringen musste. Dann lächelte er; nichts schien unwichtiger als eine zerbrochene Fensterscheibe.
    Es war ein eisiger Morgen; die Temperaturen waren während der Fahrt weiter gefallen. Der Himmel glich einer dichten hellgrauen Decke, aus der die ersten Schneeflocken fielen.
    Um sich auf seine bevorstehende Aufgabe vorzubereiten, entriegelte er erneut die Tür zu seiner inneren Gabe, die er viele Jahre tief in sich verschlossen gehalten hatte. Er musste vorsichtig sein. Noch einen Fehltritt wie bei dem Kollegen aus dem Labor durfte er sich nicht leisten. Zur Übung öffnete er sein inneres Zentrum, doch es gelang ihm nicht, seine sensiblen Sinne zu kontrollieren. Wie der Inhalt einer geplatzten Milchtüte ergossen sich die Gerüche der Natur über ihn und drangen durch jede Pore seines Körpers ein. Er inhalierte die Luft, als habe er ein Dutzend Mentholbonbons gleichzeitig geschluckt, der modrige Gestank der feuchten Erde füllte seine Nase aus und bedeckte seine Zunge. Er hustete, würgte, hustete wieder. Tränen stiegen ihm in die Augen. Während er diesen Bereich seiner Fähigkeit langsam schloss, normalisierte sich sein Geruchs- und Geschmackssinn. Er fürchtete, sich zu schnell an seine zusätzlich ausgeprägten Sinne zu gewöhnen, denn er kannte die Konsequenzen.
    Erinnerungen schlugen sich durch die Nebelwolken seines Gedächtnisses an die Oberfläche, aber Paul verbannte die an Farbe zunehmenden Bilder, indem er sich vollends auf das Bevorstehende konzentrierte. Der Stumpf seines kleinen Fingers zuckte merklich, doch Paul ignorierte ihn.
    Als er die mentale Anwesenheit eines Fremden bemerkte, zögerte er für wenige Atemzüge, dann rannte er los, öffnete die Haustür und knallte sie lautstark hinter sich zu. Seine schnellen Schritte hallten wie Pistolenschüsse auf dem Marmor durch das Foyer. Die Zimmertür war nur angelehnt, so, wie er sie zurückgelassen hatte.
    Er stieß sie mit dem Fuß auf. Ohne Rücksicht auf sich selbst öffnete er alle Portale zu seinen verborgenen Sinnen – wie er es seit Jahren nicht mehr gemacht hatte – und roch sofort das Blut und den Angstschweiß. Sein Gehirn nahm die Blutflecke, die am Bett, an der Kommode und der Wand hafteten, bereits wahr, bevor seine Augen sie erfassten. Ältere und verschwommene Emotionen, die der Raum über Jahrhunderte hinweg gespeichert hatte, überfluteten ihn und drohten ihn zu ertränken. Er schloss einen Teil seiner Sinne, damit ihn die Wucht der Impressionen nicht in die Knie zwang, und ging tiefer in den Raum. Paul legte die Kartons auf dem Bett ab, wandte sich dem Badezimmer zu und den frischen Gerüchen, die wie ein farbiger Nebel, der ihm die Richtung

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