Ciara
wies, unter der Tür hervorquollen.
Vorsichtig drückte er die Klinke herunter und schob die Tür auf.
Ein Schrei gellte ihm entgegen, in dem so viel Qual mitschwang, dass Paul seine Wahrnehmungen vollständig verschloss. Mit angezogenen Knien hockte Ciara Duchas auf der Toilette, drückte mit den Handflächen gegen die Ohren und kniff ihre Augen fest zu. Als er eintrat, schwirrte etwas an ihm vorbei. Er wusste, was sie hörte.
Damit er keine Geräusche verursachte, kniete er sich vor sie hin. Seine Lippen bewegten sich nicht, doch er projizierte seine Gedanken in ihr Gehirn, sanft, leise, beinahe zärtlich: ›Ciara, hörst du mich? Nimm deine Arme herunter, gib mir deine Hände. Bitte. Es ist gut. Gleich ist es vorbei.‹
Ciara öffnete die Augen. Sie starrte an ihm vorbei. Doch Paul schaute sich nicht um. Er wusste genau, dass sich niemand hinter ihm aufhielt. Nur wenige Sekunden später schlug Ciara um sich und schrie: »Nein, geh weg! Lass mich in Ruhe! Töte mich, aber bitte, bitte quäle mich nicht.« Ciaras Körper bebte, sie kreischte, hieb und trat nach ihm. Dann spürte Paul einen kräftigen Faustschlag am Hals.
Er griff nach ihren Armen und hielt sie fest. Vorsichtig drang Paul in Ciaras Gedanken ein. ›Ciara, ich werde dir nichts tun. Bitte beruhige dich. Sieh, wer ich bin.‹ Paul ließ Ciaras Arme los und streckte ihr seine Hände entgegen.
Jetzt schien sie ihn wahrzunehmen, ihr Mund war leicht geöffnet, der Brustkorb bebte, sie schluchzte leise und beruhigte sich nur langsam. Die in Falten gezogene Haut ihrer Stirn glättete sich.
Sie schaute auf seine ihr entgegengestreckten Hände, anschließend in sein Gesicht und dann wieder auf die Hände. Zaghaft tastete sie danach, und als ihre Finger seine berührten, griff sie so fest zu, als müsse er sie vor dem Ertrinken retten.
Ciara schaute ihn an. Er verlor sich beinahe in ihrem suggestiven Augenspiel. Damit er ihre wachsende Sensibilität nicht störte, achtete er darauf, dass sein Herzschlag ruhig blieb. Doch in seinem Inneren tobte ein Sturm, den er kaum zu kontrollieren wusste. Als er glaubte, bald das Bewusstsein zu verlieren, erhob er sich und zog Ciara mit hoch. Sie schwankte, doch Paul stützte sie und führte sie geräuschlos zurück zu ihrem Bett, wo sie sich hinsetzte, den Oberkörper zurücklegte und die Beine nachzog. Sie rutschte ein Stück zur Seite. Paul sah dies als Aufforderung an, sich hinzusetzen.
Obwohl er wusste, was passiert war, fragte er Ciara danach. Er brauchte eine Bestätigung seiner Vermutungen oder wünschte nur, ihre Stimme zu hören, darüber musste er sich später noch klar werden. Jetzt galt es, ihr zu helfen. Sie öffnete den Mund, aber Paul hob eine Hand und legte den Zeigefinger über ihre Lippen. ›Es ist nicht nötig, laut zu sprechen. Schone deine Ohren, schenke mir deine Gedanken.‹
Fragend schaute sie ihn an, doch er vermied jetzt den direkten Blickkontakt. Er nickte auffordernd, zögernd kam sie seiner Bitte nach.
Während Paul der telepathischen Erzählung lauschte, begann er mit den Vorbereitungen, um Ciara eine Blutkonserve zu verabreichen. Die Dunkelheit störte ihn nicht dabei, denn seine Augen sahen in der Nacht genauso gut wie tagsüber.
›Ich dachte, ich sei tot und die Fliege ein Teufel, der mich quält.‹
›So leicht stirbst du nicht.‹
Ciara ging nicht darauf ein, sondern fragte: ›Träumst du manchmal?‹
›Ja, intensiv. Und du?‹ Er entdeckte etwas Schwarzes in ihren Haaren und zupfte es vorsichtig heraus.
›Was ist das?‹, fragte Ciara.
›Eine Feder.‹ Paul legte sie auf das Nachttischchen. Ciara schaute eine Weile darauf, dann betrachtete sie das Amulett. ›Meine Träume gehörten stets zu meiner eigenen Realität, zu einer Welt, in die ich schon als kleines Mädchen flüchtete, in der ich meine Familie und Freunde traf.‹ Sie nahm den Anhänger in eine Hand und streichelte ihn zärtlich. ›Nur meine Mutter konnte ich dort nie finden. Auch nach ihrem Tod nicht. Erst seitdem … seit der Nacht meines Geburtstages kommt sie in den Träumen zu mir.‹
›Was hat sie dir gesagt?‹ Paul desinfizierte die Haut an Ciaras unverletzter Hand mit einem Tuch und stach eine Kanüle in die Vene.
›Nichts. Ich kann sie nie hören. Aber sie hat mir dein Gesicht gezeigt.‹
Das überraschte Paul nicht. Denn er hatte diesen Traum selbst über Jahre hinweg in unregelmäßigen Abständen erlebt – wenn auch aus seiner Sicht. Doch nie hatte er das Gesicht der Frau gesehen,
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